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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 26. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Zeuge.
Von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

„Ah, Emchen,“ fragte Herr Milden, „Du warst so lange mit der blassen Frau allein; zuerst im Wagen, dann hier. Was hat sie Dir Alles erzählt?“

„Nichts!“ sagte Frau Milden.

„Ah, nichts? Sie sollte nicht ihr Herz gegen Dich geöffnet, ausgeschüttet haben?“

„Mit keinem Worte! Das zeigt eben die große, edle Seele dieser Frau. Sie war mit mir allein, mit mir und mit ihrem Herzen, das wahrhaftig schwerer zu tragen hat, als die Herzen Millionen anderer Menschen, die auch schwer genug leiden und dulden müssen – ich erfuhr es nachher, auf einmal, so vollständig; es schmetterte mich selbst nieder –. Sie erkannte die theilnehmende, die verschwiegene, die mütterliche Freundin in mir. Kein Wort der Anklage, kein Wort der Klage nur kam über ihre Lippen. Ich wußte nicht, ob ich mehr Mitleid oder mehr Bewunderung für die Frau haben solle.“

„Und nachher, Emchen? Was war nachher geschehen?“

Frau Milden schwieg.

„Nachher, mein Kind? Hier? Als es Dir auf einmal klar wurde, was ihr Herz drücke? Wer war hier bei Euch gewesen?“

„Fragt mich jetzt nicht. Ich versprach ihr, zu schweigen.“

Die Augen der Braut waren nicht mehr blos feucht, sie standen voll Thränen, und durch die Thränen las man darin die Angst ihres Herzens.

„Es ist mir so bang, Tante, als ob ein Unglück geschähe. Der Mann sah so entsetzlich aus, und auf seiner Stirne stand der Tod, der Mord. Ah, er muß ja so oft gegen die armen Menschen auf das Todesurtheil antragen und wird so nach und nach vertraut mit dem Tode. Tante, wie kann man einen Staatsanwalt heirathen? Aber laß uns gehen, laß uns ihnen folgen. Mir ist, als ob wir die Frau beschützen müßten!“

Sie zog die Tante mit sich fort, und die Anderen folgten ihr. Es war ihnen Allen, als wenn die Angst des reinen Herzens des Mädchens weiter und klarer sähe, als sie es konnten.

Sie kehrten zu dem Gasthofe zurück, der oben auf dem Weißen Stein neben jener Stelle lag, auf welcher man die schönste Aussicht des Berges hatte. Die erste Frage der Braut war nach dem Staatsanwalt und seiner Frau. Sie waren dagewesen, berichtete ein Kellner; aber nur sehr kurze Zeit; dann hatten sie sich wieder entfernt.

„Abgereist?“

„Nein! Sie haben ihre Reisesachen zurückgelassen. Der Herr wünschte, noch erst die Sonne untergehen zu sehen. So gingen sie die Höhe dort hinauf.“

„Und wohin von da weiter?“

„Ich weiß es nicht. Sie müssen auf der andern Seite weiter gegangen sein.“

„Das ist sonderbar!“ sagten die Reisenden sich ansehend.

Ein Mädchen des Hauses sah die bedenklichen, fast betroffenen Gesichter. Sie nahte sich der Frau Milden.

„Die Dame war sehr traurig, als sie gingen. Ich glaube, sie wollte nicht gern mit. Man sah ihr eine so eigene Angst an, und der Herr – ah, gnädige Frau, es wurde mir selbst angst, wenn ich ihn ansah. Ich wäre auch nicht mit ihm gegangen.“

„Siehst Du, Tante?“ sagte die Braut.

„Aber, Kinder,“ rief Herr Milden, „seid Ihr nicht thöricht? Wie sollte der Mann dazu kommen, so aus heiler Haut, für nichts und wider nichts zum Verbrecher zu werden?“

„Seine Leidenschaft,“ sagte der Domherr, „kann Alles auf sich nehmen und tragen, nur sich selbst nicht.“

„Und,“ sagte die Braut, „warum ist er ein Staatsanwalt, der mit dem Leben der Menschen zu spielen gelernt hat? Gott stehe der armen Frau bei! Horch!“ rief sie auf einmal, und sie wurde leichenblaß und zitterte wie Espenlaub.

„Was war das?“ riefen sie Alle, und sie hatten Alle bleiche Gesichter, und ihnen Allen rieselte ein Beben durch die Glieder.

In einiger Entfernung waren zwei Schüsse gefallen, in jener Gegend, aus der sie vor wenigen Minuten gekommen waren.



4. Zwei Flüchtlinge.

Oben auf der spitzen Bergeskuppe lag zwischen dem alten Gemäuer ein einzelner Mensch. Er war bekleidet mit einer groben, grauen Leinwandjacke, wie sie die Sträflinge der Zuchthäuser und Festungen tragen. Seine Gesichtszüge, sein feingebauter Körper zeigten einen Mann der höhern Stände. Sein Gesicht sah blaß, angegriffen aus; die graue Jacke war mit Blut bedeckt. In dem angegriffenen Gesichte las man einen ungebeugten Muth, einen fast wilden Trotz. Den linken Arm trug der Mann in einer Binde. Sie war von weniger grober und weicher grauer Leinwand, jedenfalls aus dem Hemde des Flüchtlings hergestellt; sie war mit Blut bedeckt, wie die Jacke.

Der Mann blickte unmuthig um sich her. Der schönste Anblick, den das Gebirge zu bieten hatte, bot sich ihm da oben dar.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_401.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)