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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

mir die Aussicht gelassen würde, noch einmal im Leben meinen Sohn zu umarmen, wenn ich drei Jahre lang die Bedingungen gehalten, die man mir auferlegt hatte. Ich erinnerte daran, daß ich, als ich die Schwester verlassen, sie ja für schuldig gehalten, daß ich, wie sie, Sicilianer sei und wir in solcher Lage Alle zu übereilten Schritten fähig wären.

Zu meinem Erstaunen gerieth ungeachtet aller Demuth, die ich in diese Worte gelegt, der Bruder in Heftigkeit. ,Du irrst Dich in uns und in der Zeit; wir und dies Volk sind in den letzten fünf Jahren, von denen Du den größten Theil auswärts zubrachtest, andere geworden. Wir haben Euch kennen gelernt. Du sprichst von sicilianischer Eifersucht? Aber Eure Marcheses und Contes haben ihre Weiber in das Bett des Fürsten legen können und sich die allerhöchste Besudelung zur Ehre gerechnet. Euere Priester haben arme, gefallene Dirnen mit Bußen verfolgt, unsere Regierung hat die stärksten Strafen gegen Verletzung der Sittengesetze auferlegen können, Ihr habt vor den Unglücklichen ausgespieen; aber bei Euren Töchtern war dies zu entschuldigender Fehltritt, und wenn eine Prinzessin der Welt zum Scandal lebte, sicherte sie der Hof und ihr Rang, weil, wir haben es gehört, ein Regent gesagt hat: das wilde Blut der Fürsten könne nicht anders, und müsse entschuldigt werden. – Schurke!‘ rief er immer leidenschaftlicher geworden aus, ,Du hast in unserer Schwester das Bauermädchen, nicht die geborene Gräfin gesehen. Ware sie Letzteres gewesen, so hätte sie eine Dirne sein können, und Du hättest sie nicht hinausgejagt.‘

Der Geistliche trat hinzu, und ich hörte nur noch die Worte: ,Wir haben eine lange Abrechnung mit dieser Brut, der Tag der Abrechnung wird kommen.‘ Ich sah, es war keine Rettung; der politische Haß war zur Privatrache hinzugetreten und hatte ihr die tiefe, fressende Schärfe gegeben und zugleich das Mittel, sich vor sich zu rechtfertigen durch den Hinweis auf das Allgemeine, dem man opfere.

‚Machen wir ein Ende,‘ sagte rauh und kurz der ältere Bruder, und nun traten Beide an das Crucifix und die linke Hand auf das Haupt meines Sohnes, die rechte auf den Leib Christi gelegt, schwuren sie feierlich dies Kind zu ermorden, wenn sein Vater eine der gestellten Bedingungen bräche.

Dann rissen sie mich, während das Kind schrie und weinte, vom Lager empor, auf das ich niedergesunken war. Der ältere Bruder nahm ein Messer, schnitt ein Stück Brod ab und steckte es mir in die Tasche; darauf ergriffen mich Beide, führten mich hinaus bis an die Grenze ihres Besitzthums und stießen mich über dieselbe hinweg in die dunkle Nacht.“

Der Erzähler schwieg; er kam mir vor, als wäre er plötzlich älter geworden, einzelne, dicke Tropfen fielen vom Auge, und er war sichtlich erschlafft.

Mich hatte die Lösung des psychologischen Räthsels nicht so unter seine Herrschaft genommen, daß ich nicht den Gedanken in mir hätte sollen aufkommen lassen, es müsse ein Mittel geben, sich dem Banne zu entziehen.

„Aber konnten Sie,“ rief ich, „sich denn nicht an die Behörden wenden?“

Er sah mich erstaunt an. „Ich verstehe Sie,“ sagte er dann ruhig, „denn ich bin in Deutschland gewesen; aber es scheint, daß Sie Sicilien und sein Volk nicht genug studirt haben. Ich habe hier schon die Erfahrung gemacht, daß ich auf räthselhafte Weise beobachtet werde. Es giebt kein Loskommen von einem sicilianischen Schwur, und selbst Ihre Behörden würden dagegen vergeblich kämpfen. Wer sein eigenes Leben verachtet, ist Herr des Lebens aller Menschen, also auch dessen meines Sohnes.“

„Er lebt? Kann Ihr Name so sehr Geheimniß sein, können Ihre Blutsverwandten nicht von Ihnen Nachricht haben, kann nicht dem Sohne von Ihrem Elend Mittheilung gemacht werden, daß er den Bann bräche und zu Ihnen dränge?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Mein Sohn weiß nichts von seiner Abstammung und seinem Namen. Der geistliche Onkel hat ihn früh aus Sicilien gebracht, ihm ist der Weg zu Nachforschungen verschlossen, und ich glaube wirksam verschlossen, weil er sich, wie es scheint, für den illegitimen Sohn des Geistlichen hält.“

„Wissen Sie, wo er lebt?“

„Daß ich es weiß,“ sagte der alte Mann schluchzend, „ist das Herbste, was mir auferlegt ist. Ja, ich weiß es, und man hat es mich, wie ich glaube, absichtlich wissen lassen,“ rief er weinend. „Ich darf ihm nicht nahen, nicht ein einzig Mal nahen. O! Sie können mir es nicht nachdenken, nicht nachfühlen, was ich leide, wie meine ganze Seele zu ihm drängt und ich die heißen Thränen hinunterschlucken muß, wenn er vorbeizieht, der schönste Officier der päpstlichen Armee, wenn er dicht an mir vorüberschreitet an der Spitze seiner Compagnie.“

Der Unglückliche war so angegriffen, daß er sich kaum erholen konnte. Es war späte Nacht. Ich gab ihm den Arm bis an den Fuß des Capitols, doch wir sprachen kein Wort.

Am anderen Tage trat er wie gewöhnlich in das Café, aber kaum hatte er begonnen seine Runde zu machen, als er mit einer Bewegung, die deutlich errathen ließ, daß ihm unwohl sei, abbrach und mit einem bedeutsamen Blick auf mich schnell hinausging.

Ich folgte ihm. „Was ist Ihnen?“ fragte ich.

„Es ist vorüber,“ sagte er, „aber ich habe Sie um eins zu bitten.“

„Von Herzen gern erfülle ich es; was ist es?“

„Aendern Sie,“ sagte er, „ich bitte darum, Ihr Café; ich weiß nicht wie es zugeht, doch ich kann in Ihrer Gegenwart nicht mehr betteln. Aus diesem Café aber ziehe ich den größten Theil des Wenigen, dessen ich bedarf, um nicht zu verhungern, denn ich darf ja auch nicht einmal mich durch Hunger tödten.“

Ich versprach es ihm und sah ihn seitdem fast gar nicht. Am Tage vor meiner Abreise lauerte ich ihm in der Via Condotti auf, theilte ihm mit, daß ich Rom verlassen würde, und fragte ihn, ob ich irgend etwas für ihn thun könne.

„Nichts, als für mich beten, daß ich auf natürlichem Wege bald sterbe,“ sagte er, drückte meine Hand und mit einem wehmüthigen „addio, addio!“ verschwand er in der nächsten Seitengasse.




Land und Leute.
Nr. 14. Sonntagmorgen in Betzingen.
Mit Abbildung.
Von Tübingen über das „Burgholz“ nach Betzingen. Die weltberühmte Betzinger Frauentracht. – Mieder, Goller und Kübeleshaube. – Der Leidtrunk. – Glocken, Eierlesen und Hahnentanz. Lichtstube oder „Karz“. – Die „vertrauten Häuser“. – Alte und neue Geschichte von Betzingen.

Welch ein Wohlgefühl, nach so hartem Winter und so bitterem Frühling endlich einmal wieder einen blauen Morgen zu erleben und unter der späten Maisonne dahinzuschreiten! Noch ein paar Schritte, und der Kamm der Höhen ist erstiegen, die längs des Neckars streichend die Vorstufe des schwäbischen Gebirges bilden, gleichwie dieses die letzte Terrassenstufe vor den Schweizeralpen ist. Das auch Manchem draußen in der Welt aus der fröhlichen Studentenzeit gar wohlbekannte „Burgholz“ liegt hinter uns, durch welches die Straße von Tübingen herausführt, und die Schwabenalp breitet sich vor uns aus. Aber sie ist verschleiert durch die Bäume, welche die Straße zu beiden Seiten säumen, und wir wenden uns links ab über das Feld nach einem freigelegenen Punkte, der uns die ungehinderte Aussicht auf einen weiten Abschnitt des Gebirges eröffnet. Auf der äußersten Linken im Osten schließt der Hohenstaufen mit seinem öden Gipfel, auf der äußersten Rechten im Westen der Hohenzollern mit seinen luftigen Spitzen das Gemälde ab. Gerade gegenüber drängen sich die Berge wie erstarrte Wellen von mannigfaltiger Gestalt: der Roßberg wölbt seine hohe Kuppe, vor dem sagengeschmückten Urschelberge hat sich wie ein einzelner Vorposten die schlanke Achalm gelagert, die ihren Unterstock gleich einem Reifrocke ausbreitet, der Neufen schaut hinter einem niedrigeren Bergrücken herüber, und gegen den Staufen hin tritt die Teck mit bedeutendem Vorsprung in die Landschaft hinein. Es sind keine Riesen, dergleichen andere Gebirgswelten aufzuweisen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_438.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)