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in Verbindung steht. Als er sich längere Zeit am Kongo aufhielt, hatte er, um nicht gegen die Sitte des Landes anzustoßen, einige Frauen genommen – Sclavinnen wäre unanständig gewesen. Eines Abends sitzt er mit einer dieser Frauen, einer jungen, liebenswürdigen Schwarzen, vor der Thür seiner Hütte und der Anblick der wundervollen Natur erfüllt ihn mit solchem Entzücken, daß er in einem Augenblick der Erregung sich zu seiner Schwarzen niederbeugt und einen Kuß auf ihre Lippen drückt. Mit einem fürchterlichen Schrei springt das arme Weib auf und flüchtet jammernd und hülferufend unter die Bewohner des Dorfes. Nur mit Mühe gelingt es dem nacheilenden Engländer, sie zu beschwichtigen, und er erfährt nun, daß die arme Schwarze den Kuß – der in Afrika völlig unbekannt ist – für das erste Symptom des ausbrechenden Cannibalismus ihres weißen Gatten gehalten hat!

Wir wollen den Leser nicht mit weiteren Cannibalenbräuchen unterhalten. Selbst wenn er von dem, was er gehört hat, Manches streicht, wird noch genug übrig bleiben, ihn mit einigem unheimlichen Grauen zu erfüllen, wie es jeder Reisende empfunden hat, der unter diesen Völkern verweilte. Seinem gebildeten Geschmacke wird schwerlich zusagen, was von jener jungen Dschagga-Königin am Kongo erzählt wird, die, ein wahres Muster weiblicher Launenhaftigkeit, an dem einen Tage einen Liebhaber umarmte, am andern Tage ihn aufaß. Um so ausfallender contrastirt mit diesem Grauen die übereinstimmende Beobachtung aller Reisenden, daß diese menschenfressenden Stationen keineswegs zu den rohesten und auf tiefster Culturstufe stehenden Völkern gehören, daß sie im Gegentheil sittlich wie geistig ihren Nachbarn meist weit überlegen sind. Aehnliche Erfahrungen sind ja schon an den Caraiben Westindiens, an den alten Mexicanern und den Kanaken der Sandwichgruppe gemacht worden. Von den Fidji-Insulanern und den Maoris Neuseelands ist schon oben bemerkt worden, daß sie zu den edelsten und intelligentesten Stämmen der braunen Race gehören. Aber auch Heuglin, der seine Reise bekanntlich in Gesellschaft von drei Damen, Madame Tinne, deren Schwester und Tochter, machte, berichtet in ähnlich günstiger Weise über die gefürchteten Njem-njem des westlichen Bahr-el-Ghasal-Gebiets. „Alle ihre Produkte,“ sagt er, „zeigen auf den ersten Blick, daß das Volk auf einer weit höhern Stufe steht, als seine Nachbarn im Osten und Norden, und die Form ihrer Wurfmesser, Säbelmesser, Schilde etc. erinnert stark an die Producte der Länder um den Tsadsee.“ Selbst du Chaillu, der so schaudererregende Schilderungen von den Sitten der Fans in der Gabun-Gegend gegeben hat, vermag ihnen nicht eine bedeutende geistige und physische Ueberlegenbeit abzusprechen. „Bei allen den abschreckenden Gebräuchen der Fans,“ sagt er, „haben sie doch bei mir den Eindruck als den vielversprechendsten Volkes in ganz Westafrika hinterlassen. Sie kamen mir mit unwandelbarer Gastfreundschaft und Güte entgegen, und es schienen mir in ihnen Keime zu liegen, welche dieses rohe Volk für Civilisation empfänglicher machen, als irgend einen andern mir in Afrika bekannten Volksstamm. Kräftig, stolz, kriegerisch, ebenso muthig als edel, sind sie gefährliche Feinde, und ich bin der Meinung, daß die große Familie, von welcher sie nur ein kleiner Zweig sind und welche die große Bergkette (?) bewohnt, die sich meinen Forschungen nach quer über den ganzen Kontinent hinzieht, es gewesen ist, welche die Fortschritte der muhammedanischen Eroberer in diesem Theile Afrika’s aufgehalten hat.“’ Ganz besonders überraschend war bei den Fans wie bei den Njem-njems ihre Geschicklichkeit in der Bearbeitung des Eisens, das sie aus den eignen Erzen des Landes durch ein zwar noch sehr einfaches und langwieriges Verfahren, aber in so vortrefflicher Weise gewinnen, daß sie es dem europäischen Eisen vorziehen.

Dies Zusammentreffen einer gewissen Cultur und einer ziemlich hohen physischen und geistigen Begabung mit einer von allen gebildeten Völkern mit Recht auf das Tiefste verabscheuten Unsitte ist eines der merkwürdigsten Räthsel auf dem Gebiete der Menschenforschung. Es klingt befremdend, daß man in der Menschenfresserei nicht mehr den Beweis völlig verthierter Rohheit und absoluter Unfähigkeit zu höherer Civilisation erblicken soll. Unsern empfindsamen Lesern wird aber damit zugleich der Trost geboten, daß in dieser Bildungsfähigkeit der Menschenfresser ihr unnatürliches Laster sich selbst eine Grenze steckt und daß es bei den Fans und bei den Njem-njems ebenso schwinden wird, wie bei den Maoris auf Neuseeland, wenn die europäische Civilisation es verstanden haben wird, sich dieser Völker wahrhaft zu bemächtigen.

O. Ule. 




Die Einweihung von Notre-Dame in Paris. Vor Kurzem fand in Paris eine merkwürdige kirchliche Feierlichkeit statt: die Einweihung von Notre-Dame. Diese schöne, hochberühmte Kirche, die ihr Alter 15 Jahrhunderte zurückführt, war bis auf unsere Tage noch nicht eingeweiht worden und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie während dieser 15 Jahrhunderte niemals ihren baulichen Abschluß gefunden hatte. Wie die Vollendung des Louvre, jenes alten, prachtvollen Palastes der französischen Herrscher, so blieb auch die Vollendung der Kirche von Notre-Dame der Regierung Napoleon’s III. vorbehalten.

Die endliche Einweihungsfeierlichkeit war höchst imposant. Der Erzbischof von Paris, umgeben von einer großen Anzahl anderer französischer und ausländischer Bischöfe, Prälaten und Priester, vollzog die Weihe, und die ungeheuern Räume der herrlichen Kirche waren dicht gefüllt mit einer zahllosen Menge von Menschen, die, theils gläubig theils neugierig, theils fromm theils schaulustig, von nah und fern herbeigeströmt war. Die katholische Kirche spart, wie man weiß, bei dergleichen Anlässen weder Weihrauchwolken noch Kerzenschimmer, um den Glanz ihrer Festlichkeiten zu erhöhen und dadurch auf das Gemüth und die Phantasie ihrer Angehörigen desto mächtiger einzuwirken; indessen sind sich diese effektvollen Ausdrücke des römischen Cultus alle ziemlich ähnlich, und es läßt sich wenig Neues darüber sagen. Demnach liegt es auch nicht in meiner Absicht eine Beschreibung der in Rede stehenden Feierlichkeit zu geben. Aber die Kirche von Notre Dame selbst hat eine großartige, errinnerungsschwere Geschichte, die mit der Geschichte von Frankreich eng verwoben ist. Welch eine Reihe von mächtigen, welterschütternden Ereignissen haben die altersgrauen Mauern dieses ehrwürdigen Gebäudes in dem langen Zeitraume so vieler Jahrhunderte an sich vorüberziehen sehen! Wie manche Siegesfeier haben die Glocken von Notre-Dame mit ihrem ehernen Klänge verkündet, wie manchen mächtigen Herrschers Kniee haben sich an den Stufen dieses uralten Altares zum Dank- oder Bitt-Opfer gebeugt!

Eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten Ereignisse, deren Schauplatz die Kirche von Notre-Dame war, dürfte daher wohl von einigem Interesse für den Leser sein. Zur Vervollständigung dieses geschichtlichen Ueberblickes gehe ich zurück bis auf das sechste Jahrhundert, wo die Kirche als ein geheiligter Zufluchtsort betrachtet wurde; Fridegunde flüchtete sich hierher und fand Schutz. Im Jahre 829 fleht man in Notre Dame zu Gott um die Niederwerfung der Normannen. 1230 wallfahrtet Raimund VII., Graf von Toulouse, barfüßig hierher, um den über ihn verhängten Kirchenbann wieder aufheben zu lassen. 1239 bringt König Ludwig IX. die Dornenkrone des Heilandes nach Notre-Dame, die ihm von Balduin geschenkt worden ist. 1393 findet hier die Krönung von Isabelle von Baiern statt. 1431 wird König Heinrich VI. von England daselbst als König von Frankreich gekrönt. 1437 : König Carl VII., nachdem er mit Hülfe der Jungfrau von Orleans die Engländer besiegt hat, läßt hier einen feierlichen Dank-Gottesdienst abhalten. 1560: Maria Stuart, die nachmals enthauptete unglückliche Schottenkönigin, wird hier gekrönt als Gemahlin Franz’ II. von Frankreich. 1572 findet hier die Vermählung Heinrich’s IV. mit Margarethe von Valois statt und zwar in der Woche, die der Bartholomäusnacht vorherging. 1622 wird die Kirche von Notre-Dame durch den Papst Gregor XV. zur Metropolitan-Kirche erhoben. 1779 werden hundert junge Mädchen hier verheirathet, die der König Ludwig XVI. ausstattet. 1781 findet ein Te-Deum statt, für die Geburt des unglücklichen Dauphin Ludwig XVII. 1793 wird die Kirche zum Tempel der Vernunft erklärt. 1795 wird sie, mittlerweile zu einer Wein-Niederlage benutzt, dem Cultus zurückgegeben. 1802 findet ein Te-Deum statt für die Unterzeichnung des Concordates; die drei Consuln wohnen dieser Feierlichkeit bei. 1804: Krönung Napoleon’s I. und Josephine’s durch den Papst Pius VII. 1811: Te-Deum für die Geburt des Königs von Rom. 1816: Verheirathung des Herzogs von Berri mit einer Prinzessin von Sicilien. 1821: Taufe des Herzogs von Bordeaux.

1841: Taufe des Grafen von Paris. 1842: Trauergottesdienst für den Herzog von Orleans. 1848: Trauergottesdienst für den Erzbischof Affre, der auf den Barrikaden getödtet worden ist. 1853: Vermählung des Kaisers Napoleon III. mit der Kaiserin Eugenie.

Seitdem hat die Kirche von Notre-Dame die Taufe des kaiserlichen Prinzen und die Dank-Gottesdienste für die in der Krim und Italien erfochtenen Siege gesehen.

Man wird bekennen müssen, daß wenige Gebäude eine so großartige Geschichte haben, wie die Kirche von Notre-Dame; sie ist eines der interessantesten Bau-Denkmale der Welt, wie sie unstreitig eines der schönsten ist.




Ein paar Worte zur Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Als der Kaiser Alexander den hochherzigen Entschluß zur Aufhebung der Leibeigenschaft vor drei Jahren zur Ausführung brachte, da jubelte mit Ausnahme einer kleinen Partei des reich begüterten, seelenbesitzenden Adels ganz Rußland und die übrige Welt mit ihm. Auch erkannte jeder Einsichtsvolle die Nothwendigkeit einer für die Durchführung des Emancipations-Ukases anberaumten Frist an. Aber während die Einen eine Frist von zwei Jahren, wie sie der Ukas anordnet, für gar zu kurz hielten, waren andere erfahrene und im Dienste für ihr Vaterland ergraute Männer der Meinung, daß der hohe Zweck überhaupt nicht so bald, wenigstens nicht eher erreicht werden könne, als bis für die Bildung des Volkes mehr als bisher geschehen sei, und daß diese Befürchtung sehr wohl begründet ist, haben die Mißverständnisse und Unruhen, welche sich in einigen Gouvernements bei Verkündigung des Emancipations-Ukases unter den Leibeigenen zeigten, sehr bald hinlänglich bewiesen. In der That sieht es denn auch mit der Volksbildung im großen nordischen Reiche noch traurig genug aus. In den Ostseeprovinzen (Liv-, Esth- und Kurland) zwar ist mit echt deutschem Sinne für den ersten Unterricht durch gute Kreis-, Armen-, Waisenschulen und ähnliche Anstalten genügend gesorgt, und Jedermann läßt es sich angelegen sein, daß die lettische und esthnische Bevölkerung so gut wie die deutsche ihre Kinder zu einem möglichst regelmäßigen Schulbesuche anhält; aber im übrigen europäischen Rußland reichen weder in den Städten, noch auf dem Lande die Anstalten hin, um der ärmeren Volksclasse die zur Würdigung der ihr gebotenen Freiheit nöthige Bildung zu sichern. Wo ist in den größeren Städten eine ausreichende Anzahl solcher Schulen, in denen die Kinder der ärmeren Bevölkerung unentgeltlich Lesen, Schreiben und Rechnen lernen könnten? und wo ist man, namentlich auf dem Lande, bemüht, die Kinder der arbeitenden Classe an den Wohlthaten eines Elementarunterrichts theilnehmen zu lassen? Nirgendwo. Jeder mit russischen Verhältnissen Vertraute weiß freilich, wie schwer es besonders in großen Gutsdistrikten ist, bei der Ueberlastung mit ländlichen Arbeiten für eine tüchtige Elementarbildung der Kinder Sorge zu tragen, aber wir sind überzeugt, daß sich durch eifriges Zusammenwirken der Gutsherren und ihrer früheren Leibeigenen, wenn die Ersteren nur den Anstoß dazu geben, die Schwierigkeiten doch beseitigen lassen und der Segen, der solch einem Vorhaben nicht fehlen kann, sehr bald folgen wird. Die Zahl derjenigen, welche weder lesen noch schreiben können, ist in Rußland noch erstaunlich groß, doch erst dann, wenn sich diese Zahl durch Volksschulen allmählich gemindert haben wird, werden die vielen Millionen, denen der Emancipations-Ukas die Freiheit geschenkt hat, wirklich frei sein. Nur Bildung macht frei, das gilt für keinen Staat mehr, als gerade für Rußland.

B. 
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