Seite:Die Gartenlaube (1864) 638.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

mit Landleuten, die von Pesth kamen, fuhren im schnellen Trabe daher, daß die bunten Bänder und weiten Aermel der Nationaltracht gar lustig flatterten, kurz wir waren jetzt wieder in einer andern Welt und mitten in einem üppigen Dorfleben, das hier so unmittelbar an die Armuth der Winzer angrenzt.

„Leben Sie wohl!“ sagte, in der Nähe des Gasthauses wieder angelangt, unser lieber Führer, „und wenn’s mal wieder hinaus kommen nach Deutschland, dann erzählen’s etwas von uns hier. Das ist mein Haus, vergessen Sie nicht, daß ich hier wohne, wenn Sie Promontor einmal wieder sehen wollen.“

Wir versprachen es, bestiegen unser Ofener Geschirr und fuhren frohgemuth von dannen, um in der deutschen Heimath zur lieben Gartenlaube zu eilen und ihr für ihren Leserkreis, d. h. für unsere lieben Landsleute rings um den Erdkreis, die Nachricht zu bringen von unseren deutschen Winzern in den Felsen des ungarischen Weinparadieses.


Der Urmensch.

Von Karl Vogt in Genf.
I.
Schule und Geschichte. – Die redenden Steine. – Der Urzustand des Menschengeschlechts. – Eiszeit. – Höhlenbärperiode. – Die drei fossilen Menschenschädel. – Der Affenmensch. – Rennthierperiode.

Sollte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schooß der Erde gräbt.

Der Reim ist zwar keiner der besten (obgleich, wenn ich nicht irre, von einem großen Dichter[WS 1]), die Sache aber darum nicht minder wahr.

Wenn ich noch an die älteste Geschichte denke, die wir als Gymnasiasten aufgetischt erhielten und bei den Prüfungen herplappern mußten, so graut mir zuweilen: Einerseits hatten wir einen bibelgläubigen Theologen als Religionslehrer, der uns auch kein Titelchen von den haarsträubenden Familiengeschichten des jüdischen Stammes nachließ, und andererseits einen im etymologischen Wurzelsuchen aufgegangenen Geschichtsprofessor, der uns unwiderleglich bewies, daß die Griechen ägyptisch und die Deutschen griechisch gesprochen hätten, daß Chinesen und Hindus und Altperser ein Volk seien und auch nur eine gemeinschaftliche Historie besäßen, die zwar leider verloren gegangen sei, aber wieder construirt werden könne. Sprach der Eine von Moses, so fabelte der Andere von Wischnu – berief sich Jener auf die Bibel, so baute Dieser Häuser auf die Vedas, und in Mitten saßen wir armen Kerle über den kleinen Bredow gebeugt und schwitzten hinter den drei Brezeln (333), wie wir die reducirte Jahreszahl Alexander’s des Großen, oder den drei Roßnägeln, wie wir die Zahl Solon’s (666) nannten. Daß wir noch einigen Verstand aus dem Zusammenstoß der beiden unser Gehirn ackernden und säenden Lehrmaschinen retteten, daran sind diese selbst wahrhaftig nicht schuld. Und wenn nun gar der Professor der classischen Philologie dazu kam (ich glaube gar, er hieß Geist, weil er keinen hatte) und uns mit eben so voller Ueberzeugung das goldene, silberne, eherne und eiserne Zeitalter demonstrirte, so geriethen die verschiedenen Paradiese und Stammörter des Urmenschengeschlechtes in eine solche Verwirrung in unseren Köpfen, daß wir vorzogen, auf Mord auswendig zu lernen, aber schließlich gar nichts von dem Gelernten zu glauben.

Ob wohl unsere Jungen jetzt, nach der Ausgrabung der Urmenschen und der von ihnen redenden Steine, noch immer auf den Schulbänken in ähnlicher Weise wie ihre Väter bearbeitet werden? Fast möchte ich es glauben – die meinen wenigstens bringen zuweilen seltsame Bruchstücke aus der Schule heim. Um so mehr aber dürfte es geboten sein, von Zeit zu Zeit die Funde zusammenzustellen, welche Mythen und Traditionen, religiöse Sagen und poetische Fiktionen wirklich mit Steinen todtschlagen und einer gesunderen, naturgemäßeren Auffassung der menschlichen Entwicklung von Urbeginn an die Thür öffnen.

Nichts giebt in der That eine großartigere Anschauung des Entwicklungsganges unseres Geschlechtes, als jene mühsamen Untersuchungen, welche aus Sandgruben und Höhlen, aus Torfmooren und Seegründen, aus Steinhaufen und Gräbern die Zeugnisse vom Urzustande des Menschen zu Tage fördern. Mit welch’ harter Mühseligkeit kämpfte ein armseliges Volk, das hinsichtlich seiner Geistesfähigkeiten, seiner Hülfsmittel weit unter den niedrigsten Wilden stehen mußte, welche uns überhaupt unter den mitlebenden Völkern bekannt wurden, den Kampf um das Dasein! Wie elend mußten die Zustände sein, wo man einen gespaltenen Kiesel für das non plus ultra einer Waffe, das Mark eines halbverkohlten und gespaltenen Knochen für den größten aller Leckerbissen hielt; wo man mit dem Bären um seine Beute ringen und mit dem Eichhörnchen um seine Nüsse klettern mußte; wo der Mensch und des Menschen Sohn in der That nicht hatte, wo sein Haupt hinlegen, und der Gorilla in seinem Urwalde und seiner Hütte aus Baumzweigen fast auf derselben Stufe stand, wie der Mensch, der noch obenein vielleicht in einem kälteren Klima ausdauern mußte!

Wenn wir aber nun sehen und an der Hand der Thatsachen nachweisen können, wie diese kaum über die Thierstufe erhabenen Geschöpfe sich allmählich aus der Wildheit hervorarbeiten, wie sie feste Wohnsitze sich gründen, den Nahrungsschatz, den wilde Pflanzen und wilde Thiere ihnen bieten können, durch Anbauung des Bodens und Zähmung der Thiere vermehren, wie sie also Ackerbau und Viehzucht sich gründen und nun, stets weiter und weiter gehend, sogar zu dem Punkte kommen, neben dem Bedürfnisse der Noth auch dem Gefühle der Schönheit Genüge leisten zu können; wenn wir sehen, wie sie dies Alles aus dem eigenen Nachdenken schöpfen und sich zugleich auf stets höhere Stufen der Intelligenz schwingen, indem sie die Hindernisse bekämpfen, die ihnen im Wege stehen, und die Mittel erfinden, sie zu besiegen – wenn wir so, indem wir die Producte der schöpferischen Kraft, die diesen Wesen innewohnt, kennen lernen, zugleich eine stets größere und weitere Vorstellung von dieser schöpferischen Kraft und der unendlichen Sphäre gewinnen, welche der Menschengeist sich nach und nach erobert und dienstbar gemacht hat: so meine ich, sollte uns das Alles weit mehr erheben, stärken und erfreuen, als alle noch so tiefsinnigen Dichtungen oder wunderbaren Erzählungen, die man uns als das letzte Wort selbst eines über den menschlichen erhabenen Geistes anrühmen möchte. Die in Stein, Horn oder Metall ausgeprägten Zeugnisse des Urzustandes des Menschengeschlechtes, welche uns die Forschung in die Hand legt, reden lauter in der That, vernehmlicher und überzeugender von der steten Vervollkommnung des Menschen, von der beständigen Verbesserung seiner Lage, der unablässigen Veredlung seiner Sitten, der unausgesetzten Fortbildung seines Wesens, als hundert philosophische Deduktionen oder tausend langweilige Predigten. Man staunt über das Gewaltige, was Menschen, die von Allem entblößt zu sein schienen, zu leisten vermochten – man fragt sich zögernd, ob man werth sei, solchen Vorgängern nachzueifern – aber man fühlt sich zugleich gehoben durch das Bewußtsein, daß die Verbesserungen des Menschen eigenes Werk und der Zustand, in dem sich der Mensch und die menschliche Gesellschaft befindet, nur ihm und der Gesellschaft selber zuzuschreiben ist.

Die Erde war durchaus nicht wüste noch leer, sondern wohl besetzt mit Pflanzen und Thieren zur Zeit, in welcher bis jetzt die ersten Spuren des Menschen in Europa gefunden worden sind. Die Organismen waren fast in gleicher Weise vertheilt, wie jetzt, dieselben Verbreitungszonen mögen etwa existirt haben, nur mit dem Unterschiede, daß kurz vorher die Zonen weiter nach Süden herabgedrückt und etwas früher noch weiter gegen den Norden hin vorgerückt waren.

Es war eine Kälteperiode vorhergegangen, deren Spuren sich nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika, ja auf der ganzen nördlichen Hälfte des Erdballs deutlich nachweisen lassen. Von den Gebirgen, welche heute noch Gletscher tragen, waren die Eisströme weiter herabgedrungen in die Thäler, hatten die ebene Schweiz bis zu den Gipfeln des Jura selbst erfüllt, ganz Scandinavien überzogen mit Finnland als Beigabe und waren selbst bis unter den Wasserspiegel der jetzigen Ostsee hinabgerückt. Gebirgszüge,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Friedrich Schiller: An die Freunde. „Könnte die Geschichte …“
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_638.jpg&oldid=- (Version vom 7.8.2023)