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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 45. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der böse Nachbar
Erzählung von Levin Schücking.
(Schluß.)

„Nun wohl … das Mittel besteht darin,“ sagte Horst, daß Sie mir behülflich sind, mich zu dem oberen Loche unsrer Thurmkappe hinauszuschwingen. Dort kann ich die Wärtersleute herbeirufen, oder, welches lebende Wesen ich zuerst erblicke. Vielleicht kann ich noch mehr thun; die Thurmkappe ruht, soviel ich von außen gesehen, auf dem viereckigen Unterbau, der mit einer Balustrade versehen ist. Man wird also umhergehen können, und es wäre wunderlich, wenn sich nicht eine Thür fände, die auf den Dachraum des Hauses führt … man muß doch einen Weg haben, auf die Thurmplattform zu kommen, für den Fall, daß Reparaturen da nöthig sind. Dann wäre uns noch rascher geholfen!“

„Aber wie wollen Sie es anstellen, sich zu der Oeffnung hinauszuschwingen?“ frug Eugenie.

„Das ist’s eben,“ versetzte Horst, „dabei bedarf ich Ihrer.“

„Ich seh’ nicht, was ich thun kann!“

„Jedenfalls mir versichern, daß Sie nicht zürnen wollen, wenn ich sage, was Sie thun können – aber was ich weit entfernt bin zu verlangen …“

„So sprechen Sie doch endlich!“

„Wenn Sie sich hier in die Mitte unter der Oeffnung aufstellen und die Hände verschränkt so halten wollen, wie es die Stallmeister machen, wenn sie einer Dame behülflich sind, zu Pferde zu steigen, dann würde ich zuerst auf Ihre Hände, sodann auf Ihre Schulter treten, dann mich zur Oeffnung hinausschnellen.“

Eugenie lachte im ersten Augenblick verlegen auf … dann zog sie ernst ihre Stirn zusammen und sagte halb beleidigt: „Das ist allerdings eine seltsame Zumuthung …“

„Ich hab’ es Ihnen vorausgesagt!“

„Das haben Sie.“

„Und es nicht etwa Ihnen vorgeschlagen, nur auf Ihr Verlangen Ihnen genannt!“

„Nun ja … und es ist das einzige Mittel?“

„Das einzige!“

„Dann,“ fiel Eugenie plötzlich entschlossen ein, „dann sei’s darum … man soll mir nicht nachsagen, ich habe aus Prüderie etwas zu thun unterlassen, was zu thun doch sehr vernünftig war … Kommen Sie … denken wir, wir seien Kinder, die einem Vogelnest nachstellen.“

„Ich wünsche nur, daß ich mir die Leichtigkeit eines Kindes geben kann,“ erwiderte Horst und warf die Stiefel aus.

Eugenie stand mit verschränkten Händen, wie Horst es angegeben hatte; dieser legte leicht die Hand auf ihren Scheitel, trat in ihre Hände, auf ihre rechte Schulter, hatte im nächsten Augenblick beide Ellbogen auf den äußeren Rand der Oeffnung gestemmt und zog nun, während Eugenie tapfer einen seiner Füße nachschob, den Körper mit der Gewandtheit eines erfahrenen Turners nach. Eugenie brach dabei in ein lautes, herzliches Gelächter aus.

„Ich glaube, Sie lachen mich aus,“ sagte er von oben her in die Oeffnung hinabsprechend, „aber desto besser, ich sehe daraus, daß ich Ihnen nicht wehe gethan! … Und da seh’ ich auch eine Thür, die auf den Dachraum führt. Ich werde mich jetzt außen niedergleiten lassen.“

„Aber mein Gott, ist denn das nicht gefährlich?“

„Nicht im mindesten.“

„O gewiß, gewiß … wenn Sie den Thurm hinabstürzten!“

„Haben Sie keine Sorge!“

„Ich habe aber Sorge, ich ängstige mich zu Tode, wenn Sie es thun … ich will es nicht!“

„Seien Sie vernünftig, Eugenie, es ist ja da unter mir eine Balustrade…“

„Sie kann morsch sein, sie kann nachgeben, wenn Sie dagegen anprallen.“

„Ich muß aber hinunter, wenn ich Sie befreien will.“

„Nein, nein, nein, lieber bleib’ ich eingesperrt hier, als daß ich es zugebe, ich will es nun einmal nicht … Sie müssen bleiben, wo Sie sind, ich muß Sie im Auge behalten, oder ich vergehe vor Angst hier; warten wir, bis Jemand sichtbar wird, den Sie anrufen können!“

„Ich will mich Ihrem Willen fügen, wenn Sie mir eines versprechen.“

„Und was?“

„Daß Sie mich freundlich aufnehmen wollen, wenn ich morgen nach Schollbeck komme.“

„Können Sie daran zweifeln?“ versetzte sie leise, fast vorwurfsvoll.

Horst also blieb in der Thurmlaterne sitzen, wo er am Rande der runden Lichtöffnung kniete, und den Arm um einen der vier schmalen Pfeiler geschlungen hielt, welche die Laterne bildeten. Nach einer Weile sah er zu seiner Freude eine Frau dem Wärterhause zugehen, welche auf ihrem Kopfe einen in ihre blaue Schürze gepackten Armvoll frischen Klees trug. Er schrie ihr aus Leibeskräften ein „He! Holla! Hier!“ zu.

Die Frau ließ vor Verwunderung ihr Bündel fallen, als sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_705.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)