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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 46. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Pater Canisius.

Vor Kurzem las ich in der Zeitung, daß zu Freiburg im Uechtlande – in der Schweiz – die Gebeine des im Jahre 1597 dort gestorbenen Jesuitenpaters Canisius aus dem Grabe genommen seien,[1] um nach Rom gebracht zu werden, wo die Heiligsprechung des Paters erfolgen sollte.

Da fiel mir eine alte Geschichte wieder ein. Ich war von meinem Vater zum Juristen bestimmt. Seit fast zweihundert Jahren war der älteste Sohn der Familie immer ein Rechtsgelehrter gewesen; mein Vater war es so geworden, und so sollte auch ich als sein ältester Sohn es werden. Ich war unglücklich darüber, denn ich wollte Soldat werden, da wir in der Zeit der Befreiungskriege lebten. Mein Wunsch war ein thörichter; ich war kaum vierzehn Jahre alt und ein schmächtiger Knabe, der die Strapazen des Exercirens und Marschirens keine vierzehn Tage hätte aushalten können; ich war nicht von Adel – doch das war damals Nebensache. Ich wandte mich um Rath und Hülfe an meinen Onkel und fand bei ihm Rath, freilich keine Hülfe.

„Dein Schicksal ist nun einmal, Jurist zu werden,“ sagte er in seiner halb scherzenden und halb ernsten Weise, „und seinem Schicksale kann Niemand entgehen. Auch ich konnte es nicht, und meinst Du, ich wäre mit Freuden geworden, was ich werden sollte und was ich doch nun mit Liebe und mit Freude bin?“

Mein Oheim war Geistlicher, katholischer Geistlicher. Wie die ersten Söhne in unserer Familie hatten Juristen werden müssen, so mußten die dritten sich dem geistlichen Stande widmen. Er war der dritte Sohn gewesen.

„Ich war ein lebenslustiger junger Mann,“ fuhr er fort. „Ich ritt und focht und tanzte lieber, als ich die Kirchenväter studirte und später das Brevier. Aber der Wille meines Vaters war ein eiserner. Man hatte mir schon, als ich noch in der Wiege lag, bei dem Collegiatstifte eine Vicarie gekauft; sie mußte mich zum Canonicate führen, und als Canonicus war ich ein gemachter Mann. Ein zufriedener Mann wurde ich schon früher, und dazu trug sehr viel ein Abenteuer bei, das ich einst erlebte. Laß es Dir erzählen, auch zu Deinem Nutz und Frommen.“

Und mein Oheim erzählte nun Folgendes:

Ich hatte die Weihe empfangen und meine Vicarie übernommen. Tanten, Vettern und Basen wünschten mir Glück; meine Freunde bedauerten mich im Stillen; mein Vater gab mir ein paar hundert Thaler.

„Reise, sieh Dich in der Welt um; zerstreue Dich und komm zufriedener zurück,“ sprach er.

Ich reiste. Mein Vater hatte mir keinen Weg und kein Ziel vorgeschrieben. Ich konnte gehen, wie ich wollte; ich konnte ausbleiben, so lange mein Geld vorhielt. Ich reiste durch Westphalen, durch die Niederlande – viel weiter kam ich nicht. In Antwerpen hatte ich jenes Abenteuer, von dem ich Dir erzählen will. Ich hatte in Harlem das gewöhnliche Postschiff bestiegen, das nach Antwerpen fuhr. Es ging des Morgens sehr früh ab; es sollte, bei günstigem Winde, noch an demselben Tage bei Zeiten in Antwerpen ankommen. Der Wind stand ziemlich günstig. Ich war einer der Letzten auf dem Schiff, dessen wenige Passagiere sich bei dem schönen Maimorgen sämmtlich auf dem Verdecke befanden, alte, steife, holländische Kaufleute; junge Commis, die noch steifer waren als die Alten; eine hübsche junge Frau mit einem Kinde, die vom Lande zu sein schien. Der Capitain wollte die Anker lichten lassen. Er sah noch einmal nach dem Lande, da hielt er sein Commando zurück. Vom Ufer stieß ein kleines Boot ab und ruderte auf das Schiff zu. Auf der Bank in dem Boote saß eine schwarze Gestalt; es schien eine Frau zu sein. Das Boot kam näher, es war eine in schwarze Seide gekleidete Dame, die darin saß. Sie war allein und hatte am Ufer von Niemandem Abschied genommen; ich entdeckte auch kein Auge, das ihr nachgesehen hätte.

Das Boot erreichte das Schiff; die Frau stieg aus. Eine große, schöne, volle Gestalt trat auf das Verdeck mit edler, stolzer Haltung, mit jugendlichen, elastischen Bewegungen. Ihr Gesicht sah man nicht; ein dichter, schwarzer Schleier bedeckte es. Gepäck führte sie nicht bei sich; sie trug nur im Arm eine kleine Cassette von Ebenholz mit silbernem Beschlag und silbernem Schloß. Ihre Erscheinung hatte etwas Imponirendes, für mich zugleich etwas Geheimnißvolles; ich wußte selbst nicht, warum. Die steifen Holländer sahen sie kaum an; dann sprachen sie weiter von ihren Handelsgeschäften. Sie suchte einen Platz auf dem Verdeck, um sich niederzulassen. Nach den Holländern blickte auch sie kaum. Auch an mir schien ihr Blick unter dem schwarzen Schleier leicht vorüberzugleiten. Sie nahm in der Nähe der Frau mit dem Kinde Platz, die bisher allein gesessen hatte. Die fremde Dame mit der schönen Gestalt, der stolzen Haltung, den jugendlichen Bewegungen war mir interessant geworden. Langsam, auf Umwegen, wie zufällig, wußte ich mich in ihre Nähe zu bringen. Sie war unterdeß dichter zu der Frau mit dem Kinde heran gerückt und schien letzteres mit Theilnahme zu betrachten. Es war ein hübsches, frisches, wohlgenährtes Kind, weiß und roth, wie echt holländische Milch und echt holländisches Blut.

„Ist es Ihr Kind?“ fragte die Dame die Frau.

Das war eine wunderbare Stimme, mit der sie die paar Worte sprach; ein zitternder Ton, der eine innere Bewegung anzeigte, aber so rein, so voll, so weich, daß er mir tief in das Herz drang und ich meinte, er müsse jedes Herz, das ihn höre, erbeben machen.


  1. Am 26. August 1864.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_721.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)