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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 49. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Er kommt nicht.
Erzählung von Karl August Heigel.
(Fortsetzung.
2.

Als Gustav, mit heißem Gesicht und schwellender Brust, aus dem Kaufladen trat, streifte sein Blick den Fenstern im rothen Roß entlang und entdeckte das blasse, wohlbekannte Mädchenantlitz. Auch ihm ging ein Stich durch das Herz, seine Wangen verfärbten sich, und mit einer unwillkürlichen Bewegung hob er die Hand wie zum Gruß empor. Aber das plötzliche Aufflackern jenes Lichts, welches sein Traumbild der vergangenen Nacht verklärt hatte, verging, so schnell es kam. Er zog die Augenbrauen zusammen, schlug mit dem Reitstock in der erhobenen Rechten einen Kreuzhieb durch die Luft und steckte die geballte Linke in die Hosentasche. Doch bevor er den Blick abwandte und weiter schritt, war ihm Elisens jähe Ueberraschung keineswegs entgangen, und diese Beobachtung erfüllte ihn mit einer gewissen Genugthuung. Er, dessen Gewissen in seinen eigenen Sachen flügellahm und taubstumm war, erschien sich jetzt wie das mahnende Gewissen der Verirrten. „Glaub’ es wohl, daß sie erschrickt,“ sagte er zu sich, während er mit hocherhobenem Haupt die Straße nach seiner Mutter Haus hinabschritt. „Hat alle Ursache, vor mir zu erschrecken …“ Er stieß ein kurzes Gelächter aus. Seine Einbildung ward indessen nicht müde, das erschrockene, zarte Mädchenantlitz festzuhalten, ein Gesicht, das bei aller Verwirrung schön – Gustav mußte es trotz seiner Empörung zugestehen – sehr schön war. Aber erscheint in einer solchen Lichtgestalt ein schwarzes Herz nicht um so schwärzer? Muß ihn der Verrath nicht um so tiefer kränken, da sie sich in ihrem äußeren Wesen so gar nicht oder, wenn möglich, nur zu ihren Gunsten verändert hat? „Man spreche mir noch von Taubenaugen und Rosenlippen!“ fuhr er in seinem Selbstgespräche fort. „Sie besitzt Beides und ist doch eine Schlange … Man spreche mir noch von Tugend und Treue der Frauen! Herzlose Ungeheuer sind sie; ich verachte sie alle.“ Er kam sich in diesem Entschluß unendlich erhaben vor und war überzeugt, daß zur Stunde ein tiefer Schatten auf das gesammte weibliche Geschlecht fallen müsse: denn er verachtet es hinfüro!

Seine Mutter erwartete ihn im Garten hinter ihrem Hause, in einer kühlen, schattigen Laube. Sie hatte eine große silberne Brille auf und strickte an einem Strumpf für ihr Herzenssöhnchen. Seit drei Jahren hatte kein menschliches Auge Frau Flemming anders als mit dem Strickstrumpf gesehen. Wie das Rad einer Maschine, während es sich gedankenschnell dreht, scheinbar still steht, mochte es einem oberflächlichen Beobachter scheinen, als ob die ehrwürdige Matrone seit Jahr und Tag an einem und demselben Strumpf und in die geheimnißvollen Maschen gleichzeitig den Fluch stricke, nie fertig zu werden. In der That aber hätte Gustav mit seinem Vorrath an weicher, warmer, bequemer Fußbekleidung ein ganzes Bataillon für drei Winterfeldzüge ausstatten können.

Nachdem die gute alte Frau Gustav Stirn und Wangen geküßt hatte, machte sie ihm zärtliche Vorwürfe, daß er in der Nachmittagshitze so weite, ermüdende Spaziergänge unternehme. „Ermüdend – ja, aber nicht so weit,“ dachte Gustav, hütete sich jedoch, es zu sagen. Sodann händigte ihm Frau Flemming einen Brief ein, einen Brief aus der Residenz an Monsieur – Monsieur Gustave Flemming.

„Das muß ein guter Mensch, ein wahrer Freund sein,“ setzte sie mit strahlendem Lächeln hinzu, „der schon am ersten Tag nach Deiner Abreise an Dich denkt.“

Gustav steckte den Brief, der Buttler’s Schriftzüge trug, gleichgültig in die Tasche und bemerkte, daß er nur wahre und zuverlässige Freunde besitze. „Gott segne sie!“ sagte Frau Flemming. „Aber vergiß über den vornehmen Freunden in der Residenz Deine alten nicht. Auch hier sind Viele, die es mit Dir gut meinen und sich Deiner Ankunft herzlich freuen. Du mußt mir versprechen, sie Alle zu besuchen. Erst die Freunde Deines seligen Vaters, dann Deine Schulcameraden.“

Gustav schien am Wiedersehen weder Jener, noch der Andern viel gelegen zu sein. Er brummte eine unverständliche Antwort und zeichnete mit dem Stock Figuren in den Sand.

„Da wäre morgen der Kreisrichter, unser Bürgermeister, der Doctor –“ begann Frau Flemming an den Fingern herzuzählen.

„Und der Apotheker Reiser?“ fragte Gustav, während er den Blick auf seine Zeichnung geheftet hielt, „ihn werd’ ich doch auch unter den Ersten besuchen müssen?!“

Ein Schatten legte sich auf Frau Flemming’s Stirne „Wenn Du willst, auch ihn,“ antwortete sie zögernd.

„Wie seltsam Du das sagst?! Was fiel denn zwischen Dir und dem Alten vor?“

„O, nichts zwischen uns Beiden; ich achte und schätze Herrn Reiser nach wie vor,“ versetzte eifrig Gustav’s Mutter. „Er ist ein wenig menschenscheu, ein wenig wunderlich, aber ein kreuzbraver Mensch und hat dieses Schicksal wahrhaftig nicht verdient.“

Gustav hatte auch nicht die leiseste Ahnung, was für ein Schicksal den wackeren Mann heimgesucht haben könnte. Ist er abgebrannt? verarmt!? erkrankt? Oder – halt da! Gustav

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 769. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_769.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)