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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

„Sie schändet den Sarg! Fluch über die Dirne! Hinweg!“ tönen die verworrenen Antworten zurück.

„Sie kommen! sie kommen!“ kreischt es aus dem Hintergrund.

Da richtet sich Oldenburg plötzlich in seiner ganzen Größe auf. „Den Sarg empor!“ befiehlt er mit mächtiger Stimme und, das bewußtlose Mädchen den Nächststehenden in die Arme drängend, setzt er hastig hinzu, daß man sie durch den Garten entführe, während er sich opfern wolle …

Während dies im Zeitraum weniger Secunden sich in Oldenburg’s Wohnung ereignete, war im Hausflur, wie auf der Treppe ein wildes Getümmel. Unmittelbar nachdem der Stein geschleudert worden und das Mädchen vom Fenster zurückgesunken war, stürmte der Volkshaufen in das rothe Roß. Ein edles Gefühl, die Theilnahme für eine tugendhafte Frau, artete so in blinden Eifer und rohe Gewaltthätigkeit aus. Die Richter wurden Henker. Diese Tobenden, welche jetzt mit wüstem Geschrei und drohenden Mienen sich die Stufen hinanstießen und drängten, waren nicht mehr das Volk, das sein Heiligstes, Scham und Sitte, vertheidigt, sondern ein zuchtloser Pöbel. Ohne bestimmte Gedanken, was sie zunächst thun wollten, schrieen sie nach der Schuldigen – im nächsten Augenblick vielleicht ein Mordgeschrei!

Schon war der Widerstand, welchen einige besonnene Bürger auf der Treppe den Eindringlingen entgegensetzten, überwunden; schon donnerten die Vordersten – Peter’s Frau an der Spitze – gegen die Flügelthür von Oldenburg’s Wohnung’, die man in der ersten Verwirrung von innen zugeschlossen hatte – da wurden beide Flügel weit geöffnet und den Anstürmenden entgegen schwankte, von Männerschultern getragen, der offene Sarg. Dicht dahinter schritt Oldenburg. Das lichtblonde Gelock umwallte ihn wie eine Löwenmähne; er hielt das Haupt emporgerichtet, ohne Trotz, aber auch ohne Furcht. Doch der düstere Pomp, das unerforschliche Geheimniß des Todes, der Anblick der schönen Frauenleiche, welche die Hände wie eine Bittende über der Brust gefaltet hatte, überraschte und überwältigte so sehr, daß der Lärm mit einem Zauberschlag sich in tiefste Stille wandelte. Von Stufe zu Stufe machte man dem langsam niederschreitenden Zuge Platz, die Männer entblößten ihre Häupter, der Frauen Wuth erstickte die aufquellende Thräne. Keine Hand hob sich gegen Oldenburg, sondern er schritt ungehindert, unbeleidigt hinter dem Sarge einer Gattin, wie hinter einem heiligen Schilde, einher. Niemand mehr erinnerte an die Mitschuldige; die Meisten schlossen sich dem Trauergefolge an …

Voll ernster Feierlichkeit bewegte sich der Zug durch die verstummte Straße dem stillen Garten zu, wo die Schmetterlinge ein gähnendes Grab umschwebten.

Elise aber wurde, als die Gefahren vorüber, Haus und Platz geleert waren, von einigen Frauen, deren Herz der jammervolle Zustand des Mädchens mehr und mehr erweichte, nach ihrer Wohnung geleitet. Sie hatte sich entschieden geweigert, den sicherern Weg durch den Wirthsgarten und das versteckte Pförtchen zu wählen. Daheim erwartete sie ein neuer Schmerz, denn kurz vor ihrer Ankunft hatte man ihrem Vater ziemlich schonungslos das Ereigniß mitgetheilt. Ein Blick auf sein gramvolles Gesicht verrieth ihr dies. Sie warf sich ihm zu Füßen und umklammerte seine Kniee. Der alte Mann stand eine Weile rathlos und barg sein Antlitz in die zitternden Hände. Dann plötzlich hob er seine Tochter stürmisch empor, um sie an’s Herz zu drücken.

„Sage mir nichts, nichts, mein Kind,“ rief er. „Ich glaube an Dich – ich glaube an Dich.“ Und die Faust gegen unsichtbare Gegner schüttelnd, fügte er hinzu, daß sie nur kommen sollten, die sein Kind verleumdeten und bedrohten. Hierauf legte er den Kopf des Mädchens zärtlich an seine Brust und streichelte ihre Wange. Dann wieder von Verzweiflung erfaßt, sagte er: „Wir müssen fort von hier! fort! – Ach, haben wir denn nicht einen Freund?“ Und eine Weile vor sich hinbrütend, sprach er: „Gustav, der Sohn meines Freundes, mein Liebling – auch er kommt nicht.“

(Fortsetzung folgt.




Einer von Oeversee.
Eine Erinnerung aus dem schleswig-holsteinschen Kriege.
Von Julius Rodenberg.

Gegen Ende October war ich einige Tage in Hamburg. Die Bäume standen zwar schon blätterlos, aber die Luft war noch ziemlich mild und die Sonne schien freundlich auf die belebten Gassen.

Ich bekenne mich zu einer gewissen Vorliebe für Hamburg. Ich liebe die Schiffe und die Matrosen, den Hafen und all’ das seltsame Gewühl, das darin herumliegt, rudert und schwimmt. Es macht mir Vergnügen hier und da stehen zu bleiben vor einem altmodischen Gebäude, welches mich an die Tage der Hansa erinnert, oder in einer Straße, die ganz nach Hanf, Theer und Farbehölzern riecht. Die Mittel und Wege des Welthandels interessiren mich, und an solch einem Platze scheint die wunderreiche Ferne mir näher gerückt, sowohl der neblige Norden, als der licht- und farbeschillernde Süden. Mir ist da zuweilen, als hört’ ich das Herz der Welt klopfen und als verstünd’ ich, gleich dem weisen König, all’ ihre Sprachen. Das Bunte, Mannigfaltige, Vielgestaltige eines solchen Platzes fesselt mich. Vor Allem, was groß und großartig ist, habe ich Respect. Ich sehe nicht ein, warum ich einen großen Kaufmann, der seine zehn, zwölf und mehr Schiffe auf der See und seine Comptoirs in den Colonien hat und der all’ das aus eigener Kraft erworben und geworden, warum ich den nicht ebenso sehr bewundern soll, wie einen großen Feldherrn, oder einen großen Gelehrten, oder einen großen Künstler. Denn das Große bei all’ diesen Männern, so verschieden auch das Feld ist, auf dem sie sich ausgezeichnet, besteht darin, daß sie, mit irgend einer außergewöhnlichen Eigenschaft von Natur begabt, durch eisernen Fleiß und ehrliche Benutzung derselben sich emporgearbeitet und so gewissermaßen aus ihrem eigenen Vorrath die Welt um neue Schätze des Geistes oder des materiellen Wohlbefindens bereichert haben.

Ein solcher Mann ist auch mein Freund J. in Hamburg. Er hat mit Nichts angefangen, wie man zu sagen pflegt; aber er hat damals, als er anfing, zuweilen die Nächte durch gearbeitet, Nichts vor sich, als seine Bücher und zwei Gläser Wasser: das eine, um daraus zu trinken, das andere, um sich die Augen damit anzufeuchten, wenn sie ihm zufallen wollten. Dann ist es dem Manne auffallend geglückt. Nachdem er einige Jahre lang seine Briefe selbst geschrieben, selbst copirt und selbst zur Post getragen hatte, schaffte er sich zuerst für die Post einen Hausknecht, dann für das Copirbuch einen Lehrling und endlich auch für die Correspondenz einen Commis an. Dann konnte man das Wachsthum dieses Mannes von Jahr zu Jahr verfolgen. Ich habe ihn gekannt, als er noch in einer von den innern Straßen Hamburgs ein ganz bescheidenes Quartier mit Hausknecht, Lehrling und Commis bewohnte. Jetzt hat er zwei stattliche Paläste, den einen an der Binnenalster, den anderen an der Außenalster, auf dem Uhlenhorst. Seine Geschäftsräume sind gänzlich von seinem Wohnhaus getrennt, und die Zahl der Hausknechte, Lehrlinge und Commis hat sich erstaunlich vermehrt. Ich weiß nicht, wie viel Hunderte von Leuten in seinem Solde stehen, Beides zu Wasser und zu Lande; denn sein Hauptgeschäft ist das überseeische. Jetzt ist er nicht blos ein Mann von Reichthum, sondern auch einer von Rang und Würden, seitdem eine große außereuropäische Macht ihn zu ihrem General-Consul ernannt. Gar stattlich prangt das Consulatswappen über der Thür seines herrschaftlichen Hauses, und es ist nun auch ein hübsches Frauchen darin. Das war es, woran die Freunde des General-Consuls lange zweifelten. Er war noch nicht so alt; nein, keineswegs, er war nicht mehr, als auf der schattigen Seite der Dreißiger. Dennoch glaubte Niemand, daß er sich noch verheirathen würde, bis er es eines Tages selber sagte. Auf einer seiner Geschäftsreisen nach einem österreichischen Handelsplatz am Adriatischen Meer lernte er die Dame kennen, welche jetzt, seit vier oder fünf Jahren, den Namen der Frau General-Consul führt. Sie ist eine jener wunderbar eigenthümlichen Erscheinungen, frappant, exotisch, wie man sie nur dort finden kann, an den Ufern der Adria, wo sich seit Jahrhunderten so viele Racen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_788.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)