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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 1.   1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Goldelse.
Von E. Marlitt.


1.

Den ganzen Tag über hatte es geschneit, und zwar so recht mit Muße und Gemächlichkeit, so daß die Dächer und Fenstersimse dicke, fleckenlos weiße Polster angelegt hatten. Nun brach ein früher Abend herein und mit ihm ein wilder Sturm, der heimtückisch in die niedertaumelnden Schneeflocken fuhr, wie ein Raubthier zwischen eine friedliche Taubenschaar.

Mag auch das Wetter derart sein, daß der gemüthliche Kleinstädter nicht einmal seinen Hund, geschweige denn seine eigenen edlen Gliedmaßen außerhalb der vier Wände wissen will, in der großen Hauptstadt B. merkt man Abends zwischen sechs und sieben Uhr keinen auffallenden Unterschied hinsichtlich der Straßen-Frequenz. Die Gasflammen ersetzen die Himmelslichter, die nicht kommen wollen; um die Ecken jagen die Equipagen in so wüthender Eile, daß die Fußgänger nur durch einen kühnen Sprung an die Häuser Leben und Glieder retten; dafür folgt ein Schwall kräftiger Flüche dem pelzverbrämten Kutscher und dem eleganten Wagen, hinter dessen festgeschlossenen Scheiben reizende Damen ihr blumengeschmücktes Köpfchen mühsam über die ungeheuren Wogen des umfangreichen Gazekleides heben und keine Ahnung davon haben, daß in diesem Augenblick Feuer und Schwefel auf ihre duftenden Locken herabgewünscht werden. Wohlfrisirte Wachsköpfe, inmitten schauderhafter schwarzer und blonder Scalps, still und aufmerksam arbeitende Uhrmacher, süßlächelnde Commisgesichter hinter bauschenden Stoffen und verführerischen Mantillen, und alte verkümmerte Bouquet- und Kranzwinderinnen zwischen hold blühenden, frischen Blumen stehen und bewegen sich in beneidenswerther Sicherheit und wohl durchwärmter Atmosphäre hinter den Schaufenstern, die ein blendendes Licht auf die schlüpfrigen Trottoirs und den vorbeifluthenden Menschenstrom werfen, wobei blaurothe Nasenspitzen, thränende Augen und verzweifelte Kopf- und Armbewegungen an allen alten und jungen Vorübereilenden sichtbar werden.

Doch halt – nicht an allen! Da tritt eben aus einem Seitengäßchen in eine der Hauptstraßen mit leichtem, elastischem Schritt eine weibliche Gestalt. Das enge, verwachsene Mäntelchen schließt sich fest an die schlanken Glieder, und der alte, zerzauste Muff wird dicht an die Brust gedrückt, wo er die Enden eines herabhängenden Schleiers festhält; unter diesem alten schwarzen Gewebe lachen zwei Mädchenaugen im Sonnenglanz frischer Jugend; sie blicken fröhlich in das Schneegetümmel, haften innig an den halbgeöffneten Centifolien und den dunklen Veilchen hinter den Glasscheiben und verbergen sich nur dann unter den langen Wimpern, wenn sich heimtückische Eissplitter unter die Schneeflocken mischen.

Wer einmal gehört hat, wie kindliche Hände, oder auch Hände, die zu einem völlig ausgewachsenen Körper und Kopf gehören, auf dem Clavier eine wohlbekannte Melodie zuversichtlich beginnen, gleich darauf mittels einer Dissonanz den musikalischen Faden zerreißen, mit falschem Fingersatz in alle möglichen Tonarten, nur nicht in die angegebene, greifen, wobei der Lehrer den hochgehobenen, tacttretenden Fuß verzweiflungsvoll sinken läßt, bis endlich die Melodie langathmend und lebensmüde wieder anhebt, um im nächsten Augenblick durch einige leichte Tacte wie über eine weite Ebene dahinzurasen – wessen Ohrennerven einmal auf dieser Folter gelegen haben, der wird begreifen, daß das junge Mädchen, welches soeben zwei Unterrichtsstunden in einem Institut beendet hat, dem Sturmwind freudig die heiße Wange bietet, als einem wackeren Gesellen von System und consequenter Durchführung, dessen mächtiges Brausen ja in Orgel und Aeolsharfe zur wundersamen Melodie wird.

So eilt das junge Mädchen flüchtig und schwebend durch Schneefall und andringenden Menschenstrom, und ich zweifle keinen Augenblick, sie würde auf den schwimmenden Quadersteinen des Trottoirs, umbraust vom Sturm, nicht anders als auf dem Parquet eines Salons auch, dem Leser unter holdseligem Lächeln die graziöseste Verbeugung machen, wenn ich sie ihm vorstellen wollte als Fräulein Elisabeth Ferber. Diese Vorstellung kann nun freilich nicht stattfinden, und das ist mir insofern ganz erwünscht, als ich beabsichtige, den Leser mit der Vergangenheit des jungen Mädchens bekannt zu machen.

Herr Wolf von Gnadewitz war der letzte Abkömmling eines ruhmreichen Geschlechts, das seinen Ursprung zurückleiten konnte bis in ein zweifelhaftes Dämmerlicht noch vor jenem goldenen Zeitalter, allwo der vorüberziehende Kaufmann in irgend einem Hohlweg seine kostbaren Stoffe und Waaren zu adeligen Bannerfähnlein und glänzenden Turnierwämsern wie zu junkerlichen Gelagen unfreiwilliger Weise ablieferte. Aus jenen unvergeßlichen Zeiten datirte auch ein Rad in dem Wappen der Gnadewitze, auf welchem einer der Ahnherren seinen Heldengeist verhauchen mußte, weil er in Ausübung jenes ritterlichen Aneignungssystems allzuviel Krämerblut vergossen hatte.

Herr von Gnadewitz, der letzte seines Stammes, war Kammerherr in Fürstlich X.’schen Diensten, zudem Inhaber hoher Orden und verschiedener Rittergüter, wie auch Besitzer aller Charakter-Eigenschaften, die, seiner Ansicht nach, einem Hochgeborenen zukommen, und die er „vornehm“ nannte, weil dem gemeinen Mann bei der derben Hausmannskost der Moral und dem strengen Muß der Verhältnisse und Sitten jedwedes Verständniß für jene unnachahmliche Grazie und Eleganz des Lasters abgehe.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_001.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2018)