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Modernes Räuberthum.


Wie die Frühlingssonne „kein Weißes duldet“, so duldet unsere Zeit mit Ihrem unerbittlichen Zuge nach dem Realen keine Romantik mehr. Auch die Räuberromantik, die ehedem so manche bewegliche Phantasie und manches schwärmerische Gemüth beschäftigt, hat ihr zum Opfer fallen müssen. Jene poetischen Räubergestalten von edlen Impulsen und feiner Bildung, welche nur misleiteter Freiheitsdrang in die Wälder trieb, um das Unrecht zu rächen, mit dem der Starke auf den Schwachen, der Reiche auf den Armen, die bevorzugte Classe auf die Parias der Gesellschaft drückt; jene Cavaliere der Heerstraße, die ihr Gewerbe mit dem vollendeten Anstand des Gentleman betrieben, tapfer im Kampfe, hochherzig im Siege, gelassen im Unglück und ritterlich gegen die Damen; jene Schiller’schen Karl Moore, jene Byron’schen Laras und Scott’schen Rob Roys, selbst jene Kohlhaas und Hiesel sucht man heutzutage vergebens, so weit sie überhaupt nicht blos im Fabellande oder in der verklärenden Ueberlieferung des Volkes gelebt haben. Der moderne Räuber, mit nüchternem Auge gesehen, wie er leibt und lebt, ist ein himmelweit verschiedenes Geschöpf. Er ist ein schäbiger, roher, feiger Gesell, dessen Leben eine ewige Angst, der vor Furcht zittert, wenn die Soldaten ihm in Schußnähe kommen, und seine Heldenthaten nur mit Uebermacht wider wehrlose Reisende ausübt, – ein gemeiner Dieb, welcher seinen Gefangenen Strümpfe und Hemden und selbst den letzten armseligen Bissen Brodes stiehlt; ein Wilder, der sich heute dick und voll ißt, so daß er stumpf und dumm auf seinem Lager faulenzt, und morgen umsinkt vor Hunger; ein unbeschreiblich schmutziger Kerl voller ekelhafter Brutalität gegen die Frauen, welche der Zufall in seine Gewalt gebracht hat, abwechselnd der Tyrann und das Opfer, der Quälgeist und die Beute des Bauern. So wenigstens schildert den heutigen italienischen Räuber ein britischer Reisender, Mr. Moens, der mit einem Freunde auf einem von Neapel aus unternommenen Ausfluge nach den Ruinen von Pästum in die Hände einer Brigantenbande fiel.

Moens mußte geraume Zeit in der Gefangenschaft dieser Strolche bleiben, bis das vereinbarte hohe Lösegeld von dreißigtausend Ducaten bis zum letzten Heller baar bezahlt war. Er hatte mithin, Monate lang in der Bande hausend und mit ihr weit im Lande umherstreifend, Gelegenheit, einen Blick in den Haushalt des Räuberlebens zu werfen, wie dieser, glücklicher Weise, doch nur Wenigen vergönnt ist. Von Heroismus, von Galanterie und Ritterlichkeit fand er keine Spur unter der Gesellschaft, nichts als Elend und Noth, Selbstsucht und ewige Furcht. Auf Schritt und Tritt umlauert den Briganten Gefahr und die Gewohnheit macht ihn nicht mit ihr vertraut, schwächt seine Angst vor ihr nicht ab, im Gegentheil, sie hält diese unablässig in Athem. „Einmal,“ erzählt Moens, „waren die Carabinieri der Bande auf den Fersen. Dem Einen, Pavone mit Namen, klapperten die Zähne vor Schrecken und sein Gesicht war weiß wie ein Blatt Papier; ein Zweiter, Scope geheißen, warf sich halb todt vor Angst auf die Erde, und ein Dritter, Antonio, war in einem solchen Zustande von Aufregung, daß er nicht mehr wußte, was er that, sein Gewehr zwecklos an die Wand der Höhle schlug und durch albernen Lärm sich zu betäuben suchte. Ich saß ruhig auf einem Stein und rief ihnen zu: ‚Courage, Courage! Eßt ein wenig, das wird Euch gut thun!‘ Um ein Beispiel zu geben, zog ich ein Stück Brod aus der Tasche und begann es zu verzehren. Meine Banditen aber meinten: ‚Was für ein Narr Ihr seid, noch zu essen! In zwei Minuten seid Ihr ja doch mausetodt geschossen.‘“

Im Ganzen hatte Moens keinen Grund, sich über die ihm werdende Behandlung zu beklagen. Nur zwei Mitglieder der Gesellschaft, Pepino, der Anführer einer besondern Abtheilung der Bande, und Scope, pflegten an dem Gefangenen ihre üble Laune auszulassen, alle Anderen zeigten sich freundlich und theilten die kümmerliche Nahrung, welche sie selbst hatten, getreulich mit ihm. Freilich blieb die Gefangenschaft immer ein schweres Geschick, zumal die Bande von den verfolgenden Soldaten wie ein wildes Thier von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel gescheucht ward. Natürlich war Moens beständig auf das Schärfste bewacht und mußte, – was meist seine großen Schwierigkeiten und für den Gefangenen selbst in der Regel arge Unbequemlichkeiten hatte – stets versteckt werden, wenn Truppen im Anzuge waren, damit ihn diese nicht etwa entdeckten und befreiten und somit die Bande um das stipulirte Lösegeld brächten.

Die Gesellschaft zählte auch fünf weibliche Mitglieder, fünf Brigantessen. Es waren junge Dirnen mit kurzgeschnittenem Haar und immer in Männerkleidern, so daß sie Moens anfänglich für Knaben hielt. Selbstverständlich gehörten diese Brigantessen nicht zur Elite ihres Geschlechts, waren aber auch nicht jene grausamen Megären, als welche hergebrachter Weise die italienischen Räuberweiber geschildert zu werden pflegen. Stramme derbe Bäuerinnen voller Feuer und Energie konnten sie ein erstaunliches Maß von Strapazen und Entbehrungen ertragen, hatten aber ebenfalls nicht das mindeste Romantische an sich, weder durch Heroismus, Melancholie, noch sonst welche interessante und poetische Eigenschaft bemerkenswerth. Indeß erwiesen sie sich sammt und sonders ein gut Theil beherzter als die Männer und entwickelten oft einen Muth und eine Standhaftigkeit, die man nicht umhin konnte zu bewundern. Einer derselben, Concetta geheißen, war durch zufälliges Entladen eines Gewehrs der Arm zerschmettert worden. Ohne einen einzigen Schmerzenslaut auszustoßen, ja ohne nur zu ächzen oder zu zucken, ließ sie sich die Wunde von einer plumpen, großen Scheere sondiren, dem einzigen Instrument, das man zu solchem Behufe zur Hand hatte. Selbst als der Brand in die Wunde trat und sie genöthigt war, die Höhle zu verlassen und sich der Behörde zu überliefern, damit ihr der Arm amputirt werde, bewahrte sie die gleiche Standhaftigkeit. Hartnäckig lehnte sie die Anwendung von Chloroform ab, mit dem man ihr die Operation erträglich machen wollte, und nur einen Moment, blos als das Messer die Beinhaut von dem Knochen löste, biß sie die Zähne zusammen. „Vergeßt nicht,“ sprach sie zu den Aerzten, „daß ich achtzehn Napoleons bei mir hatte, als ich herkam; ich muß sie zurückhaben, sobald ich wieder gesund bin.“

Zwei der fünf Brigantinnen waren mit Flinten, die andern drei mit Revolvern bewaffnet. Ihr Hauptgeschäft bestand im Zusammenflicken der zerrissenen Kleider ihrer Freunde und Gebieter und ab und zu im Säumen der bunten Halstücher (wenn man solcher habhaft werden konnte), welche den Hauptputz des Banditen ausmachen. Zu jeder sonstigen Weiberarbeit, zum Kochen, Backen, Waschen und dergleichen waren die Damen nicht zu gebrauchen. Die Männer selbst waren zugleich Metzger und Köche, wenn das gute Glück ihnen etwa ein Schaf oder eine Ziege in den Wurf führte – sei es als Beute oder durch Kauf von den Bauern.

Diese letzteren haben an den Räubern ihre beste Kundschaft, denn wahrhaft fabelhaft erscheinen auf den ersten Blick die Preise, welche der Brigant für alle seine nothwendigen Lebensbedürfnisse zahlen muß. „Ein Pezzo, d. h. ein Ducaten“ (etwa ein Thaler vier Neugroschen), sagt unser Gewährsmann, „war der gewöhnliche Preis, den der Bauer für einen Laib Brod von zwei Rotoli, d. i. ungefähr vier Pfund, forderte, welchen jeder Andere in den Städten sich für drei bis vier Neugroschen beim Bäcker verschaffen konnte. Das gröbste baumwollene Hemd kostete den Banditen gegen drei Ducaten, es waschen zu lassen, einen Ducaten; jede Revolverpatrone kam ihm fast ebenso hoch zu stehen, und alle anderen Unentbehrlichkeiten im gleichen Verhältnisse. Nach einer Berechnung, welche ich während meiner Gefangenschaft bei ihnen anstellte, glaube ich nicht, daß eine Bande von fünfundzwanzig bis dreißig Köpfen jährlich weniger als viertausend Pfund Sterling blos für Beschaffung der allernothwendigsten Lebensbedürfnisse braucht.“

So zieht der Bauer der Abruzzen allerdings hohen Nutzen aus seinem Verkehr mit den Räubern. Wenn man aber dagegen die Gefahr in Anschlag bringt, die ihm von diesem Verkehre droht, so wird man sich nicht mehr wundern, daß er sich seine Beziehungen zu den Briganten so theuer wie immer möglich bezahlen läßt. Auf der einen Seite die Behörden, welche jede Verbindung mit den Räubern mit hohen Geldbußen und Gefängniß, ja sogar mit dem Tode bestrafen, andererseits die Banditen, die eine unerbittliche Vendetta ausüben, sobald sie Verrath argwöhnen, und Weigerungen, sie mit Nahrungsmitteln und sonstigen Provisionen zu versorgen, nicht selten an den Ernten, den Dörfern und den einzelnen Individuen heimsuchen, hat der arme Bauer gewiß einen harten Stand und alle Ursache, solchen Gefahren mindestens höchst mögliche äußere Vortheile als Gegengewicht in die Wagschale zu legen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_137.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)