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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Thätigkeit, in der poetischen Einsamkeit der frühesten Morgenstunden zu belauschen, denn Victor Hugo steht regelmäßig mit der Sonne auf und findet in den ersten Stunden des Tages eine schönsten Inspirationen.

Sein Zimmer ist beinahe eine Dachkammer zu nennen; sein Bett, eine Art von Schlafsopha, das mit alten Stickereien überzogen ist, dient während des Tages zum Sitz. Neben diesem Zimmer liegt das Arbeitscabinet, das eigentlich ein Belvedere heißen muß, ein „look out“, wie die Engländer sagen, oder ein „Lug’ in’s Land“, wie es die Schweizer bezeichnen; in diesem Raume, der mit Glas überdeckt ist, befindet sich ein kleiner, unscheinbarer Ofen; mehrere alterthümliche Sessel, und eine große Menge von Büchern stehen und liegen in bunter Unordnung umher. Neben diesem Cabinet führt ein schmaler Durchgang nach der Treppe; er ist mit einem alten Sopha und mit einem Tische meublirt und dient dem Dichter zum Zufluchtsort, wenn die Sonne zu heftig auf sein Glascabinet scheint. Victor Hugo arbeitet stehend; da er aber kein alterthümliches Stehpult nach seinem Geschmack hat finden können und eine ganz unüberwindliche Abneigung gegen alle modernen Meubles hegt, so schreibt er auf einer aus mehreren alten Sesseln und mächtigen Folianten sehr kunstvoll zusammengesetzten Erhöhung, die mit einem Teppich überdeckt ist – die Bibel und eine alte Nürnberger Chronik dienen gegenwärtig dem Dichter zur unmittelbaren Unterlage beim Schreiben. Er ist dem Cultus des „edlen Gänsekieles“ treu geblieben, seine Schrift aber ist kaum leserlich; er streicht viel aus und unterwirft sein Manuscript zahllosen Correcturen und Abänderungen. Zuweilen schleichen sich auch mitten in den Text kleine Zeichnungen und oberflächlich entworfene Skizzen ein; Victor Hugo ist bekanntlich auch ein sehr talentvoller Zeichner, und so geschieht es, daß nicht selten, und zwar zum schärferen Ausdruck eines Gedankens, der Zeichner dem Poeten zu Hülfe kommen muß. Wenn Victor Hugo seine gewohnte Tagesarbeit vollendet hat, schließt er die hieroglyphischen Blätter sorgfältig ein, ohne irgend Jemandem eine Mittheilung daraus zu Theil werden zu lassen; von dieser unbedingten Geheimhaltung seiner täglichen Productionen macht er nur dann eine Ausnahme, wenn er das betreffende Werk als vollendet und abgeschlossen betrachtet. Diese Ausnahmen werden für seine Familie und für seine nächsten und vertrautesten Freunde stets zum Feste.

Die Manuscripte, wie sie unter der Feder des Dichters hervorgegangen sind, verlassen jedoch niemals sein Haus. Sie werden mit der allergrößten Genauigkeit und Sorgfalt abgeschrieben und verglichen; ein vergessenes Wort, ein entstellter Gedanke, sogar ein falsch angebrachtes Interpunctionszeichen setzen den Dichter in die größte Verzweiflung, und erst wenn er sein Werk nochmals genau durchgelesen und sich überzeugt hat, daß Alles in der schönsten Ordnung ist, übersendet er es seinen Verlegern. In Paris hat er dann Freunde, welche bereitwilligst die Pflicht übernehmen, den Druck zu überwachen; so kommt es, daß sämmtliche Bücher Victor Hugo’s sich schon durch ihre elegante und sorgfältige Ausstattung sehr vortheilhaft auszeichnen.

Trotz seiner großen Productionsfähigkeit scheint Victor Hugo jene rasche schöpferische Kraft, die z. B. Lamartine in hohem Maße eigen ist, nicht zu besitzen. Lamartine schreibt mit Stahlfedern, in raschen, eleganten Zügen, seine Schrift scheint das Papier kaum zu berühren, er streicht nie aus, ändert keinen Satz und seine Manuscripte sehen aus wie kalligraphische Uebungen. Victor Hugo dagegen schreibt mit fester, schwerer Hand, prüft jedes Wort und ändert oft einen Satz zehn, ja hundert Mal, bevor er ihn gelten läßt. So wie er eine neue Arbeit beginnt, schließt er sich hermetisch von der Außenwelt ab; die unbedingteste Einsamkeit ist ihm Bedürfniß, und er bleibt so lange unnahbar, bis das unternommene Werk in seinem Geiste wenigstens vollendet dasteht.

Man hat dem Dichter oft vorgeworfen, daß er engherzig und eigennützig nur den materiellen Vortheil im Auge habe, den er aus seinen Schriften ziehen könne. Wie ungerecht diese Vorwürfe sind, hat Victor Hugo gerade jetzt dargethan. Es waren ihm von den Besitzern mehrerer hiesigen Journale die glänzendsten Anerbietungen gemacht worden, die „Travailleurs de la mer“ vor ihrem Erscheinen im Buchhandel capitelweise in den Feuilletons der betreffenden Zeitschriften zu veröffentlichen. Victor Hugo aber hat alle diese Anträge, die sich auf die Summe von einer halben Million beliefen, entschieden zurückgewiesen, da diese stückweise Veröffentlichung der künstlerischen Einheit seines Romanes nachtheilig sein müsse. Er verweist dagegen die Bittsteller an das Werk, welches er gegenwärtig bereits wieder unter der Feder hat: „1793“ – ein vielversprechender Titel! – das sich für die gewünschte Veröffentlichungsweise besser eignen werde.




Die Achtstunden-Bewegung in den Vereinigten Staaten. „Wir wollen nicht mehr, wie bisher, zehn Stunden des Tages arbeiten,“ ruft in diesem Augenblicke fast die gesammte Handwerker- und Fabrikarbeiter-Bevölkerung der nördlichen Staaten der nordamerikanischen Union auf ihren allenthalben zahlreich besuchten Versammlungen, in ihren Denkschriften und Zeitungs-Eingesandts. „Wir wollen jetzt, nachdem wir die schwarze Sclaverei im Süden abgestellt, die letzten Reste der weißen Sclaverei im Norden brechen. Wer zehn Stunden oder wohl gar mehr des Tages mit dem Körper arbeiten muß, behält nicht Muße und Kraft genug, um seiner eigenen wahrhaft menschlichen Fortbildung und der Erziehung seiner Kinder zu leben, kann kein solcher Bürger sein, wie ihn die Union braucht, gebildet, selbstdenkend und selbstständig er muß etwas vom Sclaven an sich tragen. Nein, wir wollen künftig blos acht Stunden täglich arbeiten und uns zusammenschaaren, damit das Achtstundensystem durch unsere Volksvertreter zum Landesgesetze werde.“

„Very well, all right!“ entgegnen ihnen nicht blos die Arbeitgeber, die ausbeutende Classe, die Nationalökonomen von Profession, die Alles recht finden, was wirklich ist, sondern auch wohlmeinende Fortschrittsorgane, „Ihr habt als freie Bürger dazu ein vollkommenes Recht; verlangt nur nicht, daß man Euch für acht Stunden Arbeit soviel Lohn zahle wie bisher für zehn oder mehr Stunden, sondern entsprechend weniger.“

„So ist es nicht gemeint,“ rufen die Arbeiter. „Wir wollen allerdings von nun an für weniger Arbeitszeit, welche gesetzlich festgestellt werden, soll, denselben Lohn wie bisher.“

Aber lieben Freunde, das ist gegen alle Vernunft; das ist gegen das Gesetz, nach welchem sich aller Handel gerecht und am besten geregelt, gegen das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wenn alle Arbeiter für dasselbe Geld weniger produciren, so wird ihr Product theurer. Folglich kann nur einer von zwei Fällen eintreten: entweder es vertheuern sich alle einheimischen Waaren, weil alle Arbeit theurer wird, es vertheuert sich also auch die Lebensweise des Arbeiters und er verliert an den höheren Preisen seiner Wohnung, Kleidung, Nahrung und Steuern genau soviel, wie er durch den erhöhten Arbeitslohn gewann; er ist also gegen jetzt an Lebensgenuß um gar nichts, als um einen Theil seiner Zeit gebessert. Oder aber, Ihr müßtet dann ferner soweit gehen, zu verlangen, daß die Zulage zu Eurem Arbeitslohne nicht auf den Preis der Waare geschlagen, sondern vom Gewinn des Arbeitgebers und des Capitals, mit dem er operirt, abgezogen werde.

„Das Letztere ist es natürlich, was wir verlangen,. sagen die Arbeiter, wenigstens die meisten. „Die Arbeitgeber und Capitalisten stecken einen verhältnißmäßig zu großen Antheil an dem Reichthum, den wir schaffen, in ihre Tasche.“

„Wenn Ihr das glaubt,“ ist die Antwort, „so werdet selbst Arbeitgeber! Werdet Arbeiter, Unternehmer und Capitalisten in Einer Person. Es ist leichter in diesem freien Lande, Arbeiter, als Arbeitgeber zu sein. Warum schafft Ihr nicht große Gewerbs-Associationen, welche selbst produciren und selbst Credit genießen, also allen Gewinn von ihrer Arbeit in die eigene Tasche stecken? Oder warum entzieht Ihr Euch, oder wenigstens Alle, die es können, nicht der Knechtschaft des bloßen Arbeiterlebens? Geht in den großen Westen und werdet als Grundbesitzer im kleinen Maßstabe, die nebenbei noch immer gewerblichen Verdienst haben können, selbstständig! Die Colonisation des Westens ist ja für Amerika die Lösung der socialen Frage!“

„Ei, das thun von uns Arbeitern ohnehin so viele, wie irgend können. Wir wollen für diejenigen besser gesorgt sehen, die es nicht können, und wollen unter ihnen die sonst unausbleibliche Entstehung eines europäischen Proletariats verhindern.“

„Aber wie soll das möglich sein, wenn die Nachfrage nach Arbeitern im Lande ohnehin so hoch ist, daß der roheste männliche Handarbeiter seine zehn, der geschickteste seine dreißig bis vierzig Dollars die Woche erhält?“

„Was hilft uns das, wenn wir für soviel Dollars nicht mehr Miethraum, Kleider, Brod und Fleisch erhalten, als zur Nothdurft gehört? Wir wollen leben, wie freie Bürger leben müssen – menschlich! Wie das möglich zu machen sei, ist Euere Sorge, Ihr Volksvertreter und Gesetzgeber. Euere erste Pflicht ist, eine Form der Gesellschaft und eine Volkswirthschaft zu erfinden, in welcher jeder Bürger ein wahrer Mensch sein kann. Wir wollen nicht zwischen den beiden Mühlsteinen des Angebotes und der Nachfrage zu Staub zermahlen sein. Wir haben die Union mit dem Schwerte in der nervigen Faust gerettet, den ewigen Menschenrechten durch unser Blut und unsern Schweiß eine ewige Freistatt geschaffen. Wir wählen künftig keinen Menschen mehr zum Volksvertreter, Gesetzgeber und Beamten, der nicht auf den heiligen Grundsatz sich verpflichtet hat, die Achtstunden-Bewegung siegreich, den Bürger zum Menschen, die Arbeit zur Herrscherin im Lande zu machen. Da habt Ihr unser Ultimatum!“

„Wie in aller Welt soll dann unser Land ferner im Stande sein, in der Production mit dem alten Europa zu concurriren das einen solchen Arbeiterüberfluß besitzt, daß dort die Arbeitslöhne durchschnittlich nur das Viertel der hiesigen Höhe erreichen?“

„Ihr hört es ja, das ist Euere Sorge. Wozu habt Ihr denn anders Nationalökonomie studirt, auf unsere Kosten studirt, als um die Welt für den freien Menschen, den freien Arbeiter wohnlich einzurichten? Kurz und gut, der Mensch ist Selbstzweck, und Euer Handelsgesetz vom Angebot und der Nachfrage muß entweder diesem Selbstzweck dienstbar gemacht werden können, oder es ist eine elende Lüge, Sophisterei und Heuchelei zur Entwürdigung des Menschen. Wenn Ihr es nicht wißt, wie man die Concurrenz, welche Europa mittels billiger Arbeitslöhne und Capitalien uns machen kann, besiegen muß, so wollen wir Euch eines von verschiedenen möglichen Mitteln nennen: Schraubt die Schutzzölle hoch genug hinauf, damit diese Concurrenz unschädlich werde! Amerika ist sich selbst genug zur Erzeugung aller seiner Bedürfnisse. Dadurch löst Ihr zugleich die Arbeiter- und die sociale Frage für Europa. Laßt der alten Europa den amerikanischen Waarenmarkt verloren gehen, und ihre Arbeiter werden durch die Noth auf unsern Gedanken verfallen, daß sie Selbstzweck sind, Menschen und Bürger, daß der Handel, die Industrie, die Nationalökonomie und ihre angeblichen Naturgesetze um des Menschen willen da sind, nicht der Mensch um ihretwillen.“

Halt, so geht es wahrhaftig; wir wollen uns die Sache überlegen, wollen sie sofort dem Congreß vorlegen,“ rufen die Politiker.

„Ja wohl, überlegt es Euch nur, denn wir sind fertig mit Ueberlegen. Wir sagen Euch, daß Euer Gesetz von Angebot und Nachfrage elende Sophisterei ist, wie es jetzt verstanden wird. Was kümmert sich der reiche Capitalist, der Lebensmittel massenhaft aufkauft und sie uns vertheuert und uns um Unsummen besteuert, um das Gesetz? Der große Westen bietet uns Mehl, Fleisch und alle ersten Bedürfnisse massenhaft an, die Nachfrage ist nicht übermäßig. Der Speculant aber nimmt das Gesetz in seine Hand und dreht ihm eine wächserne Nase. Er kauft das Angebotene auf, speichert es auf und vermindert dadurch künstlich das Angebot, steigert die Nachfrage künstlich um das Doppelte; und dann will uns der Sophist noch auf die unerschütterliche Gültigkeit dieses Naturgesetzes verweisen, daß der Preis sich gerecht durch Nachfrage und Angebot bestimme? Bah! macht das weis, wem Ihr wollt, nur keinem amerikanischen Arbeiter!“

Und so, geehrte Leser der Gartenlaube“ ist der Stand der Achtstundenbewegung im Augenblicke. Freilich hat der Farmerstand, der hier in der Politik entscheidend ist, sein Wörtchen noch nicht mitgesprochen (– und hoffentlich werden die volkswirthschaftlich barbarischen Schutzzollprojecte nicht zur Ausführung gelangen. D. R.).

A. Douai.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_224.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)