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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Civilisation einbläute, der Nachkomme, der ihnen die letzte Sclavenfessel abstreifte, Großfürst Alexander im Jahre 1839. Das ist Alles, was hier zu sehen ist. Außerdem aber giebt es zu lesen; im Fremdenbuche blätternd, sah ich den Namen „Freiligrath“, unter den zahllosen russischen Inschriften der Wände fanden sich vielbekannte, wie: Dolgoruki, Orlow, Miloradowitsch, Pahlen, Mentschikow, Kutusow, Winzingerode, Schulenburg, Langeron etc.

Peter Michaelow, der bei dem ehrlichen Meister van Kalf im Jahre 1697 die Axt und den Hobel führt, und Zar Peter der Erste, der die Strelitzen selber niedersäbelt! Der geschickte, sinnreiche Arbeiter und der große Tyrann, der begnügsame Hüttenbewohner und der unersättliche Geist, der seinen Nachfolgern auf Jahrhunderte hinaus die Wege vorgezeichnet, auf welchen sie den Besitz der Welt erobern sollen! Welche Contraste! Anderthalb Jahrhunderte schauen von der Decke dieses morschen Häusleins herab, die lehrreichsten, welche die Geschichte kennt. Von hier aus erstand die russische Flotte, die bei Tschesme ihren höchsten Triumph feierte, dann aber immer weiter zurückging, bis der Krimkrieg ihren besten Theil in den Pontus Euxinus versenkte und der Pariser Frieden ihr die fernere Entwickelung abschnitt. Wenn Peter Michaelow in die Zukunft hätte blicken können! Er würde sich doch vielleicht gewundert haben darüber, daß der Fortschritt im Osten so viel kürzere Schritte macht, als im Westen. Und wie lebhaft hatte er schon vom Einholen geträumt!

Die Zaandamer erzählen natürlich wahre Zaubermärchen von dem Aufenthalt des Zaren in ihrer Stadt, und es giebt Leute genug, welche steif und fest behaupten, die Kaiserin Katharina sei ein Holländer Kind gewesen, das der kaiserliche Zimmermann sich mitgenommen. Für sie ist Michaelow’s Werkstätte eine Art Kaaba, jeder Zweifel an ihrer Heiligkeit kränkt sie tief; kein Wunder, scheint doch eine ganze Anzahl von Lungerern davon zu leben. Daran muß die gute Stadt Zaandam niemals arm gewesen sein, denn es ist Thatsache, daß sich Peter Michaelow dermaßen von ihnen bedrängt und gehindert sah, daß er es blos acht Tage lang in der Hütte Mynheer van Kalf’s aushielt, dann aber aufpackte und seine Studien auf den Werften der ostindischen Maatschappij in Amsterdam selbst fortsetzte. Sein Aufenthalt in Zaandam war demnach auf eine ganz kurze Zeit beschränkt gewesen, und im Grunde genommen hatte der kluge und weise Bürgermeister van Bett nicht viel Ursache, sich damit zu brüsten. Aber wer in Amsterdam gewesen ist, der muß auch Zaandam und darin Peter’s des Großen Hütte besucht haben. Weiter giebt’s aber daselbst nichts zu sehen, als – Windmühlen. Und so konnten wir denn nach einer Stunde Aufenthalt beruhigt und mit dem Zeugniß gewissenhaften Touristenthums zurückkehren.

Wie wundervoll war diese Heimfahrt! Diesmal blieb das Deck fast leer, die Sonne neigte sich im Westen, eine leichte Brise war aufgefrischt und die Segel schwammen aus dem Hafen wie Schwäne, die der Haft entlassen worden sind. Ein mächtiges Dampfboot lief an unserem Zwerg vorüber und eine begreifliche Ideenassociation führte mich hinaus auf das schwarze Meer, in dem ich ein Jahr vorher das riesige Linienschiff „Peter der Große“ vor der Bugmündung liegen gesehen hatte, abgetakelt, eine Ruine, die Beute der Bohrwürmer. Hier der Anfang, dort das Ende! Wer weiß, es ist noch nicht aller Tage Abend. Aber ein Peter Michaelow wird nicht wieder nach Zaandam kommen!

W. H.




Faust, Gretchen und Mephisto.
Erinnerung eines deutschen Seemanns.


Die große Handelsmetropole Ostasiens, Schanghai, das Paradies der Dollarsmänner, dagegen der schlimmste Verbannungsort für alle andern civilisirten Leute, liegt nicht direct an der See, sondern mehrere deutsche Meilen landeinwärts an dem nördlichen Ufer des Wusung, eines breiten, tiefen Flusses mit schlammigen, trüben Wogen und ohne andere Gestade als flache Lehmränder. Tausende von Schiffen aller Bauarten liegen hier vor Anker, der Chinesenstadt gegenüber die chinesischen Dschunken, am Quai der Fremdenstadt und von da in langer Linie seewärts der europäisch-amerikanische Dreimaster. Zahlreiche Dampfer laufen aus und ein mit Passagieren, Gütern und Schiffen im Schlepptau, die in dem immerhin engen Fahrwasser des Flusses nicht mit Sicherheit auf- oder abwärts segeln können.

Unter diesen Dampfern figurirten längere Zeit auch drei Exemplare einer ganz kleinen Species, nicht größer, als die Barkasse eines Linienschiffes, aber schnell und handlich. Sie nannten sich: Faust, Gretchen und Mephisto, bedeutsame Namen, an denen man wieder einmal sieht, daß der Name nichts Gleichgültiges, im Gegentheil entschieden ein Präjudiz für die zukünftigen Lebensschicksale des Trägers ist. Welche Lebensschicksale dies für Menschen sein müßten, errathet ein Jeder sogleich aus den drei populären Dichtergestalten, die jene Namen tragen; wie aber sollen dieselben Anwendung finden können auf eine Gruppe von drei zwerghaften Flußdampfern in einem ganz unromantischen Lande? Das wird schwerlich Jemand ahnen.

Der Zweck dieser drei Gnomen war ein sehr materieller; sie dienten ihren, natürlich deutschen, Besitzern dazu, aus den Seidendistricten des himmlischen Reichs, zu denen man zu Lande nicht gelangen kann und welche damals von den bösen Geistern, den Taiping-Rebellen, beherrscht wurden, Seide zu holen, und wurden dadurch ihren Herren und Meistern eine Fundgrube unerschöpflichen Reichthums. Wegen ihrer Kleinheit und ihres flachen Tiefganges vermochten sie in alle Flußverzweigungen, Canäle und Creeks jener Gebiete einzudringen, mit Hülfe ihrer Schnelligkeit ebenso leicht wieder zu entwischen und, wenn die Gelegenheit günstig, sich Bauch und Rücken voll des kostbaren Gutes der Seide zu laden. War dies geschehen, so machten sie Kehrt, luden am Quai zu Schanghai die Waare ab und dampften wieder landeinwärts.

Wenn die glücklichen Inhaber unsere Gnomen lediglich diese Rolle spielen ließen, so hatten sie, vermuthlich belehrt durch das tragische Geschick ihrer Vorgänger, von vornherein das Leben jedenfalls richtig erfaßt. Indeß im Namen liegt das Fatum, und es konnte nicht ausbleiben, daß alsbald ein störendes Element sich geltend machte und seine unvermeidlichen Consequenzen zog, die beinahe eine allgemeine Katastrophe zur Folge gehabt hätten.

Dieses Element zeigte sich im Zwerge Mephisto, mit rothgemalter Bordswand und dito Schornstein. In allzu großem Uebermuthe war er so unvorsichtig, sein Schicksal früher herauszufordern, als es sein Ahne bei Goethe that. Zerstörungssüchtig, wie immer, gedachte er eine rechte Verwüstung auf dem mit Silberbarren und Seidenballen bedeckten Flusse anzurichten, und stieß unter vollem Dampf mit wirbelnder Schraube gegen einen andern Dampfer, der jedoch viel größer als er selbst war und deshalb nicht sank. Geschieht aber solch’ ein Zusammenstoß zwischen zwei ungleichen Gegnern, so muß einer von Beiden immer Wasser schlucken; und da dies in unserm Falle nicht der größere Dampfer that, so mußte es folgerichtig Mephisto, zur gerechten Strafe für seine Vermessenheit.

Mephisto lag also im kühlen Schlamme des Wusung beerdigt, und Faust und Gretchen hatten das Geschäft, hinter den Bergen im Gebiete der Rebellen Reichthümer zu heben, allein fortgesetzt.

Letzteren, den Rebellen, war dies Treiben natürlich nicht unbekannt geblieben, auch calculirten sie ganz richtig, daß der Besitz solcher kleiner Dampfer ihnen selbst in diesem von tausend Wasserstraßen durchschnittenen Lande von ungemeinem Nutzen sein müsse. Neben den Rebellen und den Kaiserlichen hausten in diesen Provinzen des himmlischen Reiches aber noch zahlreiche Piratenbanden, welche ebenfalls Appetit nach dergleichen reizenden Besitzthümern hegten. Bereits war ein französischer Dampfer gleicher Größe mit theilweiser Bemannung eines schönen Morgens vom Quai zu Schanghai spurlos entschwunden, und man vermuthete, daß er von Rebellen oder Piraten, vielleicht selbst im Einverständniß mit der Besatzung, weggeführt worden sei; darauf tauchte in den Localblättern das Gerücht auf, daß die Rebellen durch ihre Agenten, die sie in Schanghai immer hatten, auch Faust und Gretchen kaufen zu lassen beabsichtigten. Zu gleicher Zeit erschien ein Kaufmann, portugiesischer Abstammung, bei den Besitzern der beiden Dampfer mit der Bitte, ihm Gretchen zu leihen zu dem Zwecke, aus den Seidendistricten, aus welchen er herkomme, sein Geld zu holen, welches dort oben vergraben sei. Unendliche

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