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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Das ist aber nicht Alles, was sie auszeichnet. Boston ist eben der Repräsentant des Besten, was die neue Welt will, kann und übt. Keine Stadt der Welt hat so viel für Volksbildung, für Erziehung im Allgemeinen, für Schulen und Lehrer, für alle Bildungsmittel und Veredlungszwecke gethan, wie Boston. Auf jedes Schulkind der Stadt werden jährlich im Durchschnitt fast zwanzig Dollars Schulgeld aus öffentlichen Mitteln hergegeben, ganz ungerechnet die Summen, welche aus Privatbeuteln fließen. Die Schulhäuser sind Paläste, die Lehrergehalte sind höchst anständig, die Fürsorge für stete Hebung des Schulwesen ist über die weitesten Kreise verbreitet. Jeder Bostoner betrachtet die Schulen als die besten Versicherungsanstalten für den Himmel, wie gegen alles Unglück der Erde. Der Handwerker mit siebenhundert bis tausend Dollars Jahreseinkommen verwendet davon mindestens zwei- bis dreihundert Dollars auf die möglichst gute Schulung seiner Kinder, auf gute Bücher, Zeitungen, Vorlesungen und dergleichen mehr. Kein wohlhabender Mann stirbt, ohne ein verhältnißmäßig bedeutendes Legat für Erziehungsanstalten auszusetzen. Unterzeichnungslisten für alle Bildungszwecke ergeben immer mehr, als den dringendsten Bedarf. Aber mehr noch als diese alle Angloamerikaner auszeichnende Freigebigkeit wirkt die rege Selbstbetheiligung eines Jeden am allgemeinen Geistesfortschritt, das thätige, ermuthigende Beispiel der Werthschätzung geistiger Güter. Die Folgen sind unabsehbar. Boston hat, obwohl erst zweihundert vierunddreißig Jahre alt, vielleicht schon mehr bedeutende Männer und Frauen hervorgebracht, als irgend eine andere Stadt der modernen Welt. Nennen wir nur einige der hervorragendsten, wie Charles und George Sumner, Dr. Howe, Geo. Andrews, Theodor Parker, Lloyd Garrison, Wendell Philipps, Richard H. Dana, Edw. Everett, Ralph Waldo Emerson, James Russell Lowell, Oliver W. Holmes, George Ticknor, Horace Mann, blos unter den Männern dieses Jahrhunderts! Dieses Boston steckt gestopft voll Genies und Talenten höchsten Ranges, und da stets eine Hälfte seines jungen Nachwuchses auswandert, so streut es reichen Samen der Humanität über alle Gauen dieses Festlandes aus.

Die Hauptsache dabei ist aber doch immer wieder die Bildung der Massen. In Boston ist sie gleichmäßiger über alle Schichten der Bevölkerung verbreitet, als irgendwo – immer natürlich die eingewanderten Irländer und einige andere europäische Nationalitäten (besonders Belgier und Franzosen) ausgenommen – und auch diese erscheinen auf verhältnißmäßig gehobenem Standpunkte. Hier ist ein anderes sociales Problem der Gegenwart gelöst, an welchem Europa so schwer und convulsivisch arbeitet: der Pöbel ist abgeschafft.

Aber nicht minder ist die Aristokratie abgeschafft und das Menschenrecht sans phrase verwirklicht. Der reichste Bostoner hat wenigstens begriffen, daß er der Gesellschaft die Möglichkeit seines Reichthums verdankt, der vornehmste und bildungsstolzeste, daß er der Gesellschaft Capital und Zinseszins seiner Bildung und Bildungsgenüsse schuldet. Deshalb denn das merkwürdige Schauspiel, daß das aristokratische Stadtviertel Bostons, die Straßen, wo die Millionäre hausen, von jenen Straßen durchschnitten wird, wo die aus der Sclaverei entronnenen Neger zu Tausenden beisammen wohnen. Es ist wahr, diese Bostoner Nabobs haben aus Todesangst vor dem Verlust ihres Handels mit dem sclavenhaltenden Süden in den fünfziger Jahren ostentatiös die Auslieferung der flüchtigen Sclaven Anthony Burns, und Anthony Sims betrieben und durchgesetzt. Aber gleichzeitig beherbergten sie oder duldeten in ihrer nächsten Nachbarschaft Hunderte flüchtiger Sclaven, die hier wie in Abraham’s Schooße weilten. Und als der Unionskrieg ausbrach, strömten ihre Söhne schaarenweis zur Unionsfahne und gaben sich Sprößlinge der vornehmsten Familien dazu her, in den zuerst gebildeten Neger-Regimentern als Unter- und Oberofficiere zu dienen, ihre Töchter, um die Spitäler der Union mit freiwilligen Wärterinnen, die freigewordenen Sclaven mit Lehrerinnen zu versorgen.

Die Extreme berühren sich. Kein Wunder, daß in Boston dicht neben dem schlimmsten puritanischen Fanatismus, an welchem überhaupt ganz Neu-England krankt, der moderne religiöse Freisinn sich eingebürgert hat; daß dort der Knownothingismus entstanden ist, aber auch zugleich die aufrichtigste Werthschätzung deutscher Kunst und Wissenschaft. Beim Schillerfeste 1859 bestand die Zuhörerschaft von nahe viertausend Personen zu drei Viertheilen aus Yankees, welche den deutschen Reden des Abends mit vollem Verständniß zu folgen vermochten, und deutsche Bücher und Kunstwerke finden in Boston einen ausgezeichneten Markt.

Kurz, dieses Boston, diese Freistatt des wahren Menschenthums, diese erste Stadt der Welt an ideeellem Werthe, ist glücklicherweise – keine Erfindung, sondern eine Wirklichkeit, eine überraschende Entdeckung!

Wie stattlich und zugleich reizend Boston sich dem Auge darstellt, zeigt unser Bild, das indeß nur einen Theil der über drei Hügel verstreuten Stadt wiedergiebt. Wie ihre Lage überaus malerisch und prachtvoll, so ist sie nicht minder in mercantilischer Beziehung vortrefflich: sie hat Boston zum zweiten Seehandelsplatze der amerikanischen Union gemacht. In dessen befestigtem weitem und tiefem Hafen können fünfhundert große Schiffe bequem sich bergen, während jahraus, jahrein Tausende von Fahrzeugen aus und nach allen Meeren ein- und auslaufen. Als eine Specialität des Bostoner Verkehrs sei der große Eishandel erwähnt, welchen es namentlich mit Ostindien betreibt. Allein nach Calcutta gingen durch Bostons Vermittelung im Jahre 1856 über zwölftausend Tonnen nordamerikanischen Eises.

In der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts von englischen Einwanderern gegründet, zählt es heute über 140,000 Einwohner, mit den Orten seiner unmittelbaren Nachbarschaft, die zur Stadt gezählt werden müssen, an 200,000, von denen ziemlich die Hälfte Fremde sind. Daß Boston gewissermaßen die Wiege der amerikanischen Freiheit ist, wissen unsere Leser. Hier, in Bunkershill, das jetzt im Weichbilde der Stadt selbst liegt, wurde die erste Schlacht im großen Unabhängigkeitskriege geschlagen, hier auch einer der größten Söhne Amerikas, Benjamin Franklin, geboren.




Blätter und Blüthen.


Die geheimen Orden unserer Tage. Im neunzehnten Jahrhundert ist der Drang nach Oeffentlichkeit, Licht und Wahrheit entschiedener als in jedem früheren hervorgetreten. Im Großen und Ganzen haben daher geheime Orden, Verschwörungen und Complote bei weitem nicht mehr jene Bedeutung, welche sie in früheren Zeiten gehabt hatten. Leider giebt es aber noch immer finstere Winkel genug, welche guten Grund haben, keine Lichtstrahlen eindringen zu lassen, auch giebt es noch immer manche Regierungen, die eine freie und offene Erörterung der Verhältnisse nicht zulassen und daher ihre Gegner gewissermaßen zwingen, sich in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen. Trotz dem allgemeinen Streben nach Oeffentlichkeit hat es daher auch im neunzehnten Jahrhundert mannigfaltige Verschwörungen gegeben, welche mehr oder weniger unter dem Einfluß geheimer Orden standen. Gegen Ende der Napoleonischen Herrschaft machte der sogenannte Tugendbund viel von sich reden. Bis auf den heutigen Tag sind zwar die geheimen Fäden, welche in demselben zusammenliefen, noch nicht vollständig zu Tage gekommen, weil die kurz nach 1815 eintretende Reaction den Führern des Tugendbundes die Nothwendigkeit auferlegte, das Geheimniß, welches bis dahin unverbrüchlich bewahrt worden war, auch später noch mehr oder weniger aufrecht zu erhalten. Einzelne Thatsachen, welche sich auf den Tugendbund beziehen, sind aber im Laufe der Jahre doch zu Tage getreten. Es unterliegt z. B. keinem Zweifel, daß General Scharnhorst eines der hervorragenden Mitglieder dieses Ordens war und daß im Frühlinge des Jahres 1813 sehr bedeutungsvolle Beschlüsse von dem Tugendbunde gefaßt worden sind. Damals war König Friedrich Wilhelm der Dritte von Preußen mit dem General York, welcher sich von den Franzosen losgesagt hatte, im höchsten Grade unzufrieden. Er wollte denselben vor ein Kriegsgericht stellen und erschießen lassen. Der Tugendbund war entschlossen, den Schritt, welchen General York gethan hatte, im Nothfalle mit Gewalt aufrecht zu erhalten und nicht zu dulden, daß der wackere General als Lohn für seine aufopfernde Vaterlandsliebe eine Kugel erhalte. Für den Fall, daß Friedrich Wilhelm der Dritte auf seiner ursprünglichen Ansicht beharrt, den General York vor ein Kriegsgericht gestellt und die Allianz mit Frankreich festgehalten hätte, war der Beschluß gefaßt, den König gefangen zu nehmen, auf dem Donjon der Festung Glatz festzusetzen und dann den Krieg gegen Frankreich auch ohne und gegen den Willen Friedrich Wilhelm’s des Dritten zu beginnen. Im letzten Augenblicke gab der König nach, so daß die vom Tugendbunde gefaßten Beschlüsse nicht zu Ausführung kommen brauchten. Ohne Zweifel erhielt jedoch Friedrich Wilhelm der Dritte einige Winke über die Absichten des Tugendbundes, und daher kam es, daß er alle diejenigen, welche im Verdachte standen, daran theilgenommen zu haben, theils verfolgen ließ, theils ungeachtet ihrer großen Verdienste um das Vaterland mehr oder weniger ignorirte.

In Italien begannen um dieselbe Zelt, wie in Deutschland die Tugendbündler, die Carbonari ihre geheime Wirksamkeit. Sie trugen viel dazu

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