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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 30.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Blaubart.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die edle Gestalt der Fremden zeichnete sich wie eine Silhouette von dem lichten Hintergrund ab. Lilli erkannte an den scharf ausgeprägten Linien, daß eine prachtvolle Haarkrone den Hinterkopf schmücken müsse; feine, bunte Strahlen zuckten und blitzten über das Haupt hin, der schwarze Schleier, der auch heute die Erscheinung umfloß, war jedenfalls mit Brillantnadeln am Haar befestigt. Jetzt sah Lilli auch, daß die Dame noch sehr jung sei, ihre Bewegungen waren von mädchenhafter Weiche und Zartheit; aber heute noch auffallender als gestern machte sich eine gewisse Müdigkeit bemerkbar, als sie langsam die Treppe hinabschritt. Vergebens spähte das junge Mädchen auch jetzt nach den Gesichtszügen; das dunkle Gewebe fiel in dichten Falten über Profil und Büste.

Unwillkürlich wich Lilli in diesem Moment zurück, wie ein elektrischer Schlag durchbebte das Gefühl des Schreckens ihr Inneres und jagte ihr das Blut in die klopfenden Schläfe. … Wie thöricht! Was hatte sie zu fürchten von dem Mann, der dort in die Thür trat? Kam er doch jetzt nicht als Rächer und Zerstörer! Seine ganze Aufmerksamkeit schien auf die junge Dame gerichtet zu sein. Mit jenen sicheren, entschiedenen Bewegungen, die ihr heute Morgen an ihm aufgefallen waren, schritt er über die Terrasse und traf mit der Fremden am Fuß der Treppe zusammen. Er sprach mit ihr. Das waren jene vollen sympathischen Klänge, mit denen er Lilli’s Ohr so bestochen hatte, daß sie sogar der Tante gegenüber für seinen Charakter in die Schranken getreten war. Was er sagte, verstand sie nicht; sie hörte ihn nur den Namen Beatrice mit unendlicher Weichheit aussprechen. Er bot der Dame die Hand, allein sie zog die ihre hastig zurück und sprach, den Kopf schüttelnd, einige Worte in leisen, flötenartigen Tönen, sie schienen in Thränen erstickt… Wie genau kannte Lilli bereits die Modulation seiner Stimme! Ohne zu verstehen, was er antwortete, ohne daß er irgend eine äußere Bewegung gemacht hätte, erkannte sie doch sofort, daß er unwillig wurde. Er trat näher an die Dame heran und hob den Arm; wollte er sie umschlingen? Abermals fuhr jenes elektrische Zucken durch Lilli’s Seele, aber diesmal war es wie ein jäher Stich, der sie schmerzte. Ihre Wangen brannten, sie schämte sich plötzlich hier zu lauschen und wollte sich zurückziehen; aber das, was sie in diesem Augenblick sah, fesselte ihren Fuß an die Schwelle. Bei der Annäherung des Blaubartes wich die Fremde zurück und floh mit wankenden Schritten, als schaudere sie vor seiner Berührung… Sie verabscheute ihn, das lag klar vor Augen – war er ein Verbrecher, und sie wußte um seine Schuld? Oder stieß seine Persönlichkeit sie zurück, und er heischte dennoch Gegenliebe von ihr? Warum sie dieser letzteren Vermuthung weniger Raum gab, darüber wurde Lilli sich selbst nicht klar; es blieb ihr auch nicht länger Zeit, zu beobachten und nachzudenken; denn in Tante Bärbchens Garten erhob sich ein lauter Lärm. Wie das junge Mädchen sah, hatte die Henne unvorsichtiger Weise ihren hohen Standpunkt verlassen und war ohne Zweifel in Tante Bärbchens Gesichtskreis gerathen; denn die beiden alten Damen, Sauer und die händeringende Dorte hatten sich zu einem wahren Treibjagen vereinigt, und eben, als Lilli zu ihnen gelangte, stürzte sich das geängstete Huhn in die Hofthür, die eilig hinter ihm geschlossen wurde. Dorte entging ihrem Schicksal nicht; sie erhielt am Schluß des unglückseligen Tages, der mit dem Streit um des Teufels Existenz begonnen hatte, einen tüchtigen Verweis; aber trotz dieser Sühne war nun doch der trauliche Gedankenaustausch zwischen den beiden alten Freundinnen gründlich gestört, dergleichen Unregelmäßigkeiten in ihrem exemplarischen Hauswesen brachten Tante Bärbchen leicht um ihr inneres Gleichgewicht. Man kehrte nicht mehr in die Laube zurück, und der Besuch entfernte sich.

Eine halbe Stunde später lag das alte Haus der Hofräthin im tiefsten Schweigen; aber wenn auch die fest verrammelten Thüren und Fensterladen wacker jeden fremden Eindringling abwehrten, so konnten sie doch nicht verhindern, daß sich die Celloklänge aus dem Thurmzimmer durch ihre Ritzen stahlen und als hinreißende Melodieen durch Lilli’s Stübchen rauschten. Das waren andere Klänge, als die gestern Abend gehörten! Bald erhoben sie sich im wilden Jubel und rissen die Seele des Hörers mit in ihren berauschenden Strudel, dann irrte es wieder klagend durch die Saiten, in jedem Ton aber bebte und glühte die Leidenschaft. … Lilli hatte die Fensterflügel geöffnet und preßte ihre heiße Stirn an den Laden. Sie fühlte fort und fort das große, feurige Auge des Blaubartes auf sich ruhen, und inmitten all der geheimnißvoll flüsternden oder entfesselt dahin brausenden Töne hörte sie seine Stimme in jenem seltsamen Gemisch von Scherz und Bitterkeit, wie sie vom verlorenen Frieden sprach.

Es war gut für Lilli’s eigenthümlich aufgeregten Seelenzustand, über den sie selbst keine Klarheit erlangte, daß nun Tage der Zerstreuung folgten. Visiten in Tante Bärbchens sehr ausgedehntem Bekanntenkreise und Gegenbesuche füllten beinahe den ganzen Tag aus; auch wurden Ausflüge in die Umgegend gemacht. Die öftere Abwesenheit vom Hause, der Verkehr mit Altersgenossinnen und das Wiederbetreten alter, entfernter Lieblingsplätze, all dies schwächte allmählich die Eindrücke der ersten Tage ab und gab ihr

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_465.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)