Seite:Die Gartenlaube (1866) 672.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege.
3. Selbstbekenntnisse eines Schwerverwundeten.

Wo wäre in den letzten Monaten die deutsche Zeitung gewesen, die nicht wieder und immer wieder zu berichten gehabt hätte von den furchtbaren Opfern, welche der jüngste gewaltige Krieg gefordert? Wo das Blatt, das nicht erzählt von den Schmerzen der armen zerschossenen, zerhauenen, zerstochenen Krieger auf der Wahlstatt, auf dem Transport, im Lazarethe, unter den sondirenden und operirenden Händen der Aerzte und ihrer Gehülfen? Alle diese langen Leidenscapitel sind von Gesunden, von Aerzten und anderen Zeugen des Jammers geschrieben worden, – von den Verwundeten selbst ist unsers Wissens, außer durch einzelne Privatbriefe, keine Schilderung ihrer Leiden in die Oeffentlichkeit gekommen. Und doch können diese allein sagen, wie es ihnen auf den Marterbetten um’s Herz gewesen ist, was sie da erduldet, gefürchtet und gehofft, wie sie gezweifelt haben und oft genug verzweifelt sind. Deshalb werden gewiß alle unsere Leser mit Interesse und Theilnahme den nachstehenden Seiten folgen, in denen zum ersten Mal ein Verwundeter, zugleich der erste Blessirte im mörderischen Kampfe zwischen Hannoveranern und Preußen, der in weiten Kreisen bekannte Redacteur der Allgemeinen Deutschen Turnzeitung, Georg Hirth, seine Erlebnisse und Schicksale, seine Erfahrungen und Empfindungen auf einem monatelangen schweren Krankenlager zu Nutz und Frommen seiner Leidensgefährten darstellt.


Mein Leiden begann, als ich jenes verhängnißvolle Briefchen mit der Aufschrift „Ordre“ bekam. Rasch hatte ich meine Angelegenheiten in dem mir lieb gewordenen L. geordnet. Eine Nachtfahrt per Dampf brachte mich in meinen Heimathsort Gotha. Um neun Uhr Morgens „stellte“ ich mich in der Caserne, ward von Neuem für körperlich tauglich befunden und mit der ganzen zum Morden und Todtschlagen erforderlichen Ausrüstung versehen.

Mehrere Tage lang „suchten“ wir die Hannoveraner. Endlich graute der Morgen des 27. Juni. Unser Regiment hatte die Nacht über auf einem Wiesengrunde bei dem Dorfe Westhausen campirt. Gegen acht Uhr Generalmarsch. Unsere Compagnie eröffnete den kriegerischen Reigen, der sich nun in scharfem Marschtempo, einhundertundzwanzig per Minute, gen Langensalza bewegte. Bis eine Stunde vor der Stadt ist die Chaussee von Längenthälern und sanft aufsteigenden Höhenzügen quer durchschnitten. Auf einem der letzteren liegt, dicht an der Straße, der Ort Henningsleben; hier hatte ein Theil der hannoverschen Armee noch kurz vor unserem Nahen gelagert.

Unsere Artillerie gab das Zeichen zum Angriff: in weiten Bogen schwirrten ihre Bomben über unsere Köpfe und die Henningsleber Höhe hinweg dem sich zurückziehenden Feinde nach. Wir marschirten jetzt, das „Gewehr zur Attaque rechts“, in langgestreckter Linie zu beiden Seiten der Chaussee auf die Höhe zu, fanden aber nur noch Lagerüberbleibsel, Fässer, Strohzelte, weggeworfene Tornister und Tschakos, ja sogar einige Cavaleriesäbel. Jetzt war die letzte Anhöhe zurückgelegt; Langensalza lag vor uns, aber vom Feinde war nichts zu sehen. Da – etwa noch fünf- bis sechshundert Schritt vor der Stadt, knatterte es auf einmal, eins, zwei, drei Kugeln hörten wir um unsere Köpfe durch die Luft pfeifen. Sie kamen zweifelsohne aus Büschen und Staketen, die sich links von der Chaussee hinzogen. Das Feuer wurde lebhafter, wir machten lange Hälse, um die unsichtbaren Schützen zu sehen. „Wirst Du auf Einen schießen,“ sprach ich zu mir, „wenn er Dich nicht selbst bedroht? Vielleicht hat er Frau und Kinder zu Haus, und dann – was hat er Dir gethan? die da unten, unsere hannoverschen Brüder, schießen gewiß absichtlich über unsere Köpfe weg und“ – krach, da schlug’s wie mit einem schweren Schmiedehammer auf meinen rechten Oberschenkel, ich brach taumelnd zusammen und schrie unwillkürlich laut auf. Aber in demselben Augenblicke war die Besinnung da: mein Bein war entzwei, das mußte wieder geheilt oder – abgenommen werden; dazu bedurfte es guter Pflege, und deren war ich sicher, ich brauchte mich ja nur zu der Familie meines liebsten Jugendfreundes in der Stadt schaffen lassen. Ich ließ mich von Cameraden in den Chausseegraben legen, wo ich immer noch den hannoverschen Kugeln ausgesetzt war, und, da das vorbeiziehende Kriegsvolk viel lästigen Staub aufwirbelte, mit meinem Mantel bedecken. „Da, schon Einer todt?“ rief ein Landwehrmann, und ich antwortete ihm lächelnd: „Noch nicht ganz.“ – „Nun, denn heile man jut“ und, „Gut Heil“ tönte es aus den dichten Reihen, die bald genug gelichtet werden sollten.

Ein preußischer Stabsarzt kam und legte mir einen Nothverband an. Die Blutung war nicht arg. Das Geschoß war eine kleine Spanne unterhalb der Leistendrüsen in den Schenkel eingedrungen und hatte sowohl in der Hose als in der Haut nur eine kleine Oeffnung gemacht. Auf mein Befragen sagte mir der Arzt, daß der Knochen etwas weiter oberhalb gebrochen, wo nicht zersplittert, daß eine Amputation nicht unbedingt nothwendig sei und daß das Geschoß im hintern Theile des Schenkels, dicht unter den Gesäßmuskeln zu sitzen scheine. In der That fühlte ich hier etwas wie ein Beutelchen. Menschenfreundliche Civilisten hatten unterdessen für einen Leiterwagen gesorgt. In ziemlich barbarischer Weise wurde ich hinauf und, als er vor dem Hause meiner Freunde hielt, heruntergehoben. Das Erstaunen der Familie, mich so wieder zu sehen, war nicht gering, größer aber alsbald das Bestreben, mir meine Lage so angenehm wie möglich zu machen.

Während ich nun, der beengenden Uniform entkleidet, auf dem Bette lag und meine Wunde fortwährend mit Kaltwasserumschlägen belegt wurde (Eis, das besser gewesen wäre, gab’s nicht), tobte draußen das Getöse der Schlacht. Die Wände erzitterten von dem Donner der Kanonen, deren Geschosse jeden Augenblick zu uns eindringen konnten. Um mich vor den gefährlichen Gästen möglichst zu schützen, wurde ich in einen Gang in der Mitte des Hauses geschafft. Um sechs Uhr Abends war Alles ruhig, die alte hannover’sche Einquartierung, wenige Gebliebene ausgenommen, kehrte bei uns ein; ich hatte nun Muße, über mein Pech nachzudenken. Da lag ich also mit einer Schußfractur des Oberschenkels. „Leichtverwundet“ las ich später neben meinem Namen in der Verlustliste unsers Regiments; die Folge zeigte mir leider, daß ich schwer genug verwundet war. Der Arzt, der mich so ohne Weiteres für leichtverwundet ausgab, hätte wissen müssen, daß z. B. im Krimkriege etwa sechszig bis siebenzig Procent meiner speciellen Leidensgefährten unterlegen waren und daß die so Verwundeten am meisten der Eitervergiftung (Pyämie) ausgesetzt sind. Je weiter nach dem Rumpfe zu aber die Fractur des Knochens stattgefunden, desto gefährlicher ist der Fall; bei mir war der Bruch nur zwei Zoll vom sogenannten Rollhügel (Trochanter) entfernt, das obere Fragment war nur ein kurzer Knochenstummel, der jeder Bewegung des Oberkörpers folgte.

Am andern Tage, der die Capitulation des Königs Georg brachte, Vormittags kam – seit dem Nothverbande im Felde – die erste ärztliche Hülfe. Ein hannoverscher Arzt schnitt mir das Bleigeschoß so geschickt und schnell aus, daß ich großes Zutrauen zu dem schönen, hohen Manne mit der riesigen Studentenquart auf dem linken Backen gewann. Was er mir lächelnd vorzeigte, war ein Stück Blei von der Form eines österreichischen Guldens, mit scharfen, zerrissenen Rändern, in welches ein Stückchen Hosentuch fest eingeklemmt war. Ich hätte das Ding nicht gleich vergnügt bei Seite legen sollen: eine Vergleichung mit einem hannoverschen Original-Spitzgeschoß hätte schon damals klarstellen müssen, daß noch ein gutes Stück Blei irgendwo in meinem Bein steckte. So einfache Betrachtungen sollten doch niemals versäumt werden, namentlich nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Verwundung, wo Operationen an dem verwundeten Körpertheile noch nicht durch Geschwulst, Wundfieber und erhöhte Reizbarkeit schwierig und gefährlich werden.

Am dritten Tage übernahmen meine Behandlung zwei Civilärzte, die von auswärts zu Hülfe gekommen waren, denn wir lagen unser weit über eintausend Verwundete in Langensalza. Mit vollen Segeln war ich bereits in die erste und traurigste Periode meiner Leiden hineingesteuert, die ich wohl kurzweg „sentimentale“ nennen kann. Fortwährend fieberhafte Aufregung, schlaflose Nächte mit peinigenden Phantasien, eine oft zu ärgerlichen Ausfällen gegen meine Umgebung ausartende Ungeduld und Gereiztheit und doch auch häufig eine christliche Ergebung in mein Geschick. Ich befand mich in einem Chaos von Stimmungen. Wenn die barmherzige Schwester, die mich anfangs pflegte, an meinem Lager stand und mich tröstete, oder wenn ich so still für mich hin eine Melodie pfiff, die mich an vergangene, in froher Jugendgemeinschaft

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 672. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_672.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)