Seite:Die Gartenlaube (1866) 743.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Jeder weiß, was die verfolgten Juden und Reformirten dem hiesigen Gemeinwesen auch in materieller Hinsicht genutzt haben. Diese sittliche Grundlage, diese edlen Bürgertugenden, sowie die centrale Lage können äußerlich nicht genommen werden, sondern sie werden neue und größere Blüthen treiben, zumal wenn Industrie und Handel der Stadt durch eine neue Gesetzgebung an Ausdehnung gewinnen, und der reifende moralische Charakter der wohlhabenden Jugend mehr geschützt und gesichert wird vor dem Mehlthau der benachbarten Spielhöllen. Ueber diese mit meinem Nächsten.




Eine neue Völkerbrücke.


Dem englischen Unternehmungsgeiste sind so viele, vorher für unmöglich gehaltene, und darum nicht geglaubte Wunder gelungen, daß wir ihm gern auch ein Wunder Mosis zutrauen. Wie dieser die Kinder Israel trockenen Fußes durch das rothe Meer führte, wollen die Engländer über den Meeres-Canal, wenn nicht unter- oder innerhalb desselben, eine Eisenbahnbrücke bauen und die Passagiere von beiden Seiten, von Calais wie von Dover, trockenen Fußes und ohne Seekrankheit hinüber und herüber dampfen. Mit ihren Eisenbahnen tief unter oder hoch über London hin, dem Themse-Tunnel, durch welchen sie jetzt eine Eisenbahn legen, ihrer Menai-Brücke, welche Dampfzüge hoch über Schiffsmasten hin und über das wogende Meer nach der Insel Anglesey führt, ihrem doppelt gelungenen atlantischen Kabel u. s. w. werden sie auch Muth und Mittel finden, einen der vielen Pläne zur unmittelbaren Verbindung Englands und Frankreichs per Eisenbahn auszuführen. Die erste Idee dazu ging von Franzosen aus und zwar vor mehr als sechzig Jahren, lange vor der Dampf- und Eisenbahn-Periode, und ist seitdem von Franzosen und Engländern in allen möglichen Formen technisch ausgearbeitet worden, so daß man aus dem reichen Material verhältnißmäßig leicht den besten Plan herausfinden und ausführen kann.

Nach dem kurzlebigen Frieden von Amiens (i. J. 1802), als Engländer und Franzosen sich gegenseitig freundschaftlich besuchten und der liberale Minister Fox beim Consul Bonaparte speiste, machte der französische Ingenieur Mathieu letzterem seine Aufwartung und legte ihm den ersten Plan zur unterseeischen Verbindung Englands und Frankreichs vor. Auf beiden Seiten sollte ein großer unterirdischer Weg nach dem Meere hin so tief hinunter führen, daß ein horizontaler Tunnel beide verbinden könnte. Die Zugänge und der Tunnel sollten massiv gemauert, gepflastert, mit Oellampen erleuchtet, durch ungeheure Eisenröhren von unten über die Meeresfläche herauf ventilirt und so breit werden, daß neben einem doppelten Wege für Fuhrwerke noch zwei für Fußgänger hinliefen. Bonaparte und Fox sprachen darüber sehr angelegentlich und ersterer schlug vor, daß das Riesenwerk auf Kosten beider Staaten ausgeführt werden möge; aber der Friede und diese friedliche Idee wichen bald einem neu ausbrechenden Kriege und der späteren unsinnigen Continentalsperre, wofür England den Feind der Freiheit und des friedlichen Verkehrs endlich auf Elba und Helena einsperrte. Hierauf nahmen zwei andere französische Ingenieurs, Franchot und Tessié de Mottray, den Plan in anderer Weise wieder auf, nämlich in Form einer großen Eisenröhre auf dem Bette des Meeresgrundes hin. Payerne, ebenfalls Franzose, verbesserte den unebenen Meeresgrund, ebnete ihn durch Taucherglocken, unter welchen eine ebene Grundlage gemauert werden sollte, um erst auf dieser einen massiven Tunnel hinzuziehen.

Es folgten eine Menge andere Projecte, zum Theil der unsinnigsten Art, bis endlich der französische Ingenieur Fayer wieder mit einer technisch sehr verständigen und ausgearbeiteten Verbesserung dieses Planes auftrat. Auf Grund von genauen Vermessungen und Peilungen des Meeresgrundes in vier verschiedenen Linien des Dover-Canals construirte er auf dem Papiere einen fünf deutsche Meilen langen, hundertundsechzehn Fuß tief gradlinig unter dem Meere hinlaufenden Eisenbahn-Tunnel mit allmählich auf beiden Seiten des Landes sich hebenden Ausläufen zum unmittelbaren Anschluß an die gewöhnlichen Eisenbahnen. Die submarinen Züge selbst sollten nicht durch Locomotiven, sondern durch Luft getrieben werden. Er verlangt dafür nicht mehr als 80,000,000 Francs, d. h. nicht viel über 3,000,000 Pfund Sterling, weniger, als das kleine neue Dreieck von Eisenbahnen über der City von London und der Themse kostet, und versprach gleichwohl fünfzehn Procent Dividende. Dennoch fand das Project viele Gegner, besonders trat der Engländer Nicol dagegen mit einem eisernen und stark ummauerten submarinen Tunnel auf. Diesen bekämpfte wieder Mr. Austin mit einem dreifachen Tunnel, jeder groß genug für zwei Eisenbahnzüge neben einander.

Noch ehe man sich ordentlich darüber entschieden hatte, überraschte der Franzose Thomé de Gamond 1857 die Welt mit einem prachtvollen Quartbande von zweihundert Seiten und den genauesten colorirten Zeichnungen, um die Ausführbarkeit eines Tunnels zu beweisen, der an Großartigkeit und Originalität der Construction Alles übertrifft, was je zur Verbindung Englands und Frankreichs vorgeschlagen ward. Er beweist zunächst, daß die gebildeten Völker, ungehindert durch Wasser und Berge, zum leichteren Verkehr miteinander unmittelbar verbunden werden müßten, besonders England mit Frankreich, dem übrigen Europa und dem Osten. Zwei der größten Hindernisse dieses beflügelten Verkehrs wurden eben siegreich beseitigt, durch den Suez-Canal von Lesseps und den Mont-Cenis-Tunnel durch die Alpen; das dritte, oder vielmehr erste, hoffe er durch eine Eisenbahn zwischen England und Frankreich zu beseitigen. Nachdem er die Eisenbahn, die hoch über dem Canale von vierhundert ungeheuren Steinthürmen getragen, dann eine Brücke unmittelbar über dem Wasser (mit Ziehbrücken zum Durchlassen der Schiffe) selbst verworfen hatte, trat er mit seinem Submarine-Tunnel und den vom Meere aus auf Wendeltreppen hinunterführenden Eisenbahnen in seinem prachtvollen Werke hervor und wußte Napoleon III. so sehr dafür einzunehmen, daß dieser wissenschaftliche und praktische Männer berief – Engländer und Franzosen –, um die Sache geologisch, technisch und architektonisch näher zu untersuchen. Der Meeresgrund zwischen Calais und Dover wurde also auf’s Neue und zwar in fünf Richtungen sehr gründlich untersucht, wobei sich als beste Linie die vom Cap Grisnez in Frankreich nach einem Punkte zwischen Dover und Folkstone ergab. Wir können hier natürlich nicht auf die Einzelnheiten seines riesigen submarinen Bauwerkes eingehen und wollen nur auf den über dem Meere strahlenden Mittelpunkt desselben hindeuten, nämlich einen zwölfhundert Fuß im Durchmesser großen, dreihundert Fuß hohen oder tiefen, mit dem unterseeischen Tunnel unmittelbar verbundenen Thurm und eine Wendeltreppe darin, nicht etwa für Menschen, sondern für ganze Eisenbahnzüge, um sich hier auf- und abzuwinden und Passagiere und Waaren theils von unten auf dem Meere in bereitstehende Schiffe abzusetzen, theils von oben in den Tunnel hinab und von da nach England oder Frankreich zu führen. Dieser Thurm, von ihm L’étoile de Varne – Stern der Varne genannt – sollte zugleich eine höhere Bedeutung erhalten und „le mariage symbolique des nations“ – die symbolische Verehelichung der Nationen – darstellen.

Die Idee war groß und wunderschön in dem prächtigen Quartbande illustrirt; aber aus der massiven Ehe wurde nichts!

Vier Jahre später trat der Engländer J. F. Smith mit einem ganz anderen Projecte hervor: einer riesigen, schmiedeeisernen Röhre mit Schienen inwendig, die er ungefähr zwölf Yards unter dem Wasserspiegel aufhängen und von Dover bis Calais verlängern wollte. Ankerketten und verschieden angebrachte große, eiserne Stäbe sollten sie festhalten und spirale Treppen an beiden Gestaden den Auf- und Abgang vermitteln. Aber die Sache erschien gleich etwas wackelig und erregte englisches und französisches Kopfschütteln. Nicht viel besser ging es dem gleichzeitig veröffentlichten Plane eines Mr. Chinie, der an beiden Gestaden ungeheure Thürme aufrichten und sie mit den nächsten Landeisenbahnen durch massive Bollwerke verbinden wollte, um die Züge in grader Linie bis über die Thürme zu führen und von da aus durch eine hydraulische Maschinerie bis zum Meeresspiegel herab zu senken und auf ein dazu besonders erbautes langes Schiff mit Schienen auf dem Deck zu führen, welches dann mit Dampf hinüber und

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_743.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2020)