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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

reinigende Scheuerung des Speisefeldes mit dem nächstliegenden, selbst neuesten Zeitungsblatte, was auf diese Weise den Lesern höchst unappetitlich gemacht ist. Und die Moral? Beim Essen muß man nicht blos Rücksicht auf seinen Magen, sondern auch auf seine Mitmenschen nehmen.

Was die Zeitungsleser in Restaurationen betrifft, so dürfte unter ihnen wohl die raffinirteste Rücksichtslosigkeit angetroffen werden. Da giebt es z. B. die bekannten Zeitungstiger, welche dem Kellner, trotz alles Protestirens, jede eben angekommene Zeitung aus den Händen reißen und sich schleunigst darauf setzen, um im sichern Besitze derselben zu bleiben, während sie sich noch mit dem Lesern eines andern Blattes, ja wohl sogar mit Essen und Trinken beschäftigen. – Dort sitzt Einer, der die neuesten politischen Nachrichten neben sich auf dem Tische liegen hat, von Zeit zu Zeit abwechselnd einige Zeilen darin liest, dann wieder mit der langsamsten Behaglichkeit einige Bissen Kaltes verzehrt und darauf einen Schluck aus dem Glase thut, dann wohl auch zwischendurch ein Gespräch mit dem Nachbar anknüpft, worin er sich auch nicht stören läßt, wenn ihm zu wiederholten Malen und immer eindringlicher: „ich bitte mir nach Ihnen die Zeitung aus,“ zugeraunt wird. Ein solcher Kunde raisonnirt gewöhnlich am meisten, wenn er nicht schnell genug in den Besitz der gewünschten Zeitung gelangt. – Ist endlich ein solcher rücksichtsloser Patron mit Lesen, sogar der Verkaufs-, Entbindungs- und Vermählungsanzeigen, fertig, so fällt’s ihm gar nicht ein, die Bitte seines Nach-Ihm zu erfüllen, er wirft das Blatt auf den ersten besten Stuhl oder Tisch und überläßt dasselbe seinem Geschicke. – Manche sind von der Sucht befallen, nicht nur ihrer Nachbarschaft, ganz gegen ihren Willen und ihr Wohlbehagen, lange Artikel aus den Zeitungen vorzulesen, sondern auch noch ihre superklugen Bemerkungen dazu zu machen. Und wehe dem, der sich über dieses Gelangweile moquirt! – Ein gesuchtes Blatt entweder eines interessanten Artikels oder eines Bildes wegen mitgehen zu heißen (vulgo klemmen), oder zu diesem oder jenem Zwecke zu mißbrauchen, das halten Viele, weil sie es thun, durchaus nicht für unverschämt, bei Andern ist’s das. – Oft wird nach einer Zeitung in allen Winkeln herumgesucht und schließlich findet sie sich als Spielzeug in schönen oder unschönen Händen oder als Schutz vor Fettflecken unter den Aermeln eines Sonntagsrockes. – Für diesen Abend leiste man nur gleich Verzicht auf ein Zeitungsblatt, wenn man’s in den Händen eines bebrillten alten Herrn sieht, der es entweder mit halblauter Stimme oder mit entsprechendem Mundgewackele Zeile für Zeile durchbuchstabirt und sehr böse wird, wenn er sich etwas beeilen soll. – Und die Moral? Spute Dich beim Lesen der neuesten Zeitung und laß sie baldigst Deinem Nächsten zukommen.

Betrachten wir nun auch die Rücksichtslosigkeiten der Raucher und Schnupfer. Von den ersteren machen gewöhnlich diejenigen den unausstehlichsten Qualm, die das schlechteste Kraut rauchen. Sie versetzen ihre Umgebung in Wolken, in denen auch der gesündesten Lunge zu athmen sauer wird. Manche von ihnen können es sich auch nicht versagen, ihren Rauch nicht in die Luft, sondern ihren Nachbarn in’s Gesicht zu blasen. – Der gebildete Raucher, der die Spitze seiner Cigarre nie abbeißt, sondern abschneidet, thut dies gar nicht selten mit dem Messer des noch reinen Couverts an seiner Seite und legt ganz ungebildeter Weise dasselbe Messer ruhig zu weiterem Gebrauche beim Essen wieder hin. – Noch glimmende Cigarrenstummel, sogar noch brennende Zündhölzchen, cavalièrement unter die Gesellschaft zu werfen, den Damen damit die Kleider zu verbrennen, das genirt den noblen Raucher nicht. – Die Asche der Cigarre am oder wohl gar in das Pfeffer- oder Salznäpfchen abzustreichen, kommt nicht selten auch bei nichtkurzsichtigen Rauchern vor. – In Bezug auf die Schnupfer läßt sich vorzüglich darüber klagen, daß dieselben ihre Schnupftabaksnase nicht immer so präsentiren, wie es das Organ, welches auch als Ausläufer des Gehirns bezeichnet wird, verlangt. Auch geschieht der Act des Schnupfens und des Priseanbietens gar nicht selten in einer für die Nachbarn nicht eben angenehmen Weise. Immer sind aber die Unarten der Schnupfer eher als die der Raucher zu ertragen.

Schließlich soll nun noch Derer, aber nicht mit Liebe gedacht werden, die mit ausgehungerten gefräßigen Hunden und unartigen Kindern kneipen gehen. Sie bringen durch ihre ungezogenen Lieblinge oft dahin, daß man vor Aerger Essen und Trinken stehen läßt und macht, daß man fortkommt. – Das wäre denn solches, aber noch lange nicht alles Thun mancher unserer Mitmenschen im Bier- und Weinhause, was Andere nicht zugefügt zu haben wünschen und was auch die Thäter selbst nicht zugefügt haben wollen. Schlimmer wird es in dieser Hinsicht aber noch im Concert und Theater, auf dem Balle und im Salon, im Waggon und Hôtel getrieben, und darum folgen diesem ersten Artikel über Nächstenrücksicht noch einige andere.

Bock.




Drei Abende mit Ferdinand Hiller.


Musik ist unter allen Künsten die
rein menschlichste, die allgemeinste.
Jean Paul     



In einem großen anmuthigen Zimmer, mitten unter den epheuumrankten Statuen Bach’s und Händel’s, unter den charakteristischen Portraitköpfen Beethoven’s, Felix Mendelssohn’s, Mozart’s und Schumann’s, einem reichbesetzten Blumentisch gegenüber, stand ein Härtel’scher Stutzflügel. Die Lichter waren weggenommen, und selbst über die große Lampe drüben auf dem Theetisch hatte man einen rosenrothen verhüllenden Schleier gebreitet, die kleine Gesellschaft aber, die sich um ihn versammelt, Frauen und Männer, lauschten eben einer reizenden, kleinen Tondichtung: Ferdinand Hiller spielte sein „Zur Guitarre“.

Draußen war es Herbst, der Wind klopfte ungestüm an die Fenster, Regenschauer schlugen gegen die Scheiben, drinnen träumte man von einer warmen Sommernacht unter italienischem Himmel. Die Rosen blühten, vom hohen Balcon neigte sich eine schöne Frauengestalt à la Giulietta, das Mondlicht verklärte ihr Blumengesicht, und der elegante glühende Cavalier gestand ihr „zur Guitarre“ seine Liebe. Es war eine Liebe, wie sie im Lande, wo die Citronen blüh’n, aufflammt, und der arme Nordländer beneidete den Glücklichen, denn Orangenblüthen duften süßer als Vergißmeinnicht, die Nordländerin aber seufzte. Wer könnte ihr ein Ständchen „zur Guitarre“ bringen, im Lande der Regenschauer und Gewitterstürme, des Hustens und Schnupfens und der klatschsüchtigen neidischen Nachbarn?

Ich habe diese entzückende musikalische Déclaration d’amour bis jetzt nur vom Componisten selbst spielen hören, aber ich meine, sie könne nie und nirgend ihre Wirkung verfehlen. Was unseren damaligen kleinen Kreis betrifft, so waren wir Alle bezaubert, wie man beim Anblick des ersten Frühlingsstraußes bezaubert ist, oder von dem Ton einer langentbehrten theuren Stimme. Hiller mußte sein Lied sofort noch einmal singen. Er kam damals, mit Ehren überhäuft, etwas ermüdet von allerlei lucullischen Festsoupers mit obligaten Toasten und Lorbeerkränzen, von Bremen zurück, wo man seine Oper „die Katakomben“ zum ersten Mal aufgeführt und den Componisten in glänzendster Weise gefeiert hatte, und da ruhte er denn einen Abend in dem Freundeshause aus. „Ausruhen“ aber hieß: im tiefen Sessel behaglich plaudern und einmal nicht „ex officio“, sondern nur con amore musiciren. In der Nacht um drei Uhr wollte er weiter, nach Köln zurück, vorher noch ein paar Stunden schlafen. Da galt es denn die Zeit zusammennehmen, hatte man sich doch so lange nicht gesehen, so viel zu fragen und zu erzählen. Hiller selbst spricht und erzählt so frisch und köstlich, wie er spielt, und erschien während des kleinen Soupers sprudelnd heiter. Es war eben einer jener Abende, wie sie selten vom Himmel fallen, Stunden, die einen Veilchenduft in der Seele zurücklassen. Später hörten wir noch eine kleine Beethoven-Sonate von ihm; dann spielte er noch einige geistvolle Kleinigkeiten – „Bagatellen“, wie er sie nannte, eigener Composition. Dazwischen sang die Hausfrau seine tiefergreifende „Wallfahrt nach Kevelaer“, diese schöne Tonillustration zu dem Heine’schen Gedicht, dann Mendelssohn’s Suleika, Schubert, Schumann, Franz und endlich das Scheidelied: „Es ist bestimmt in Gottes Rath etc.“[WS 1]

Mitternacht war längst vorüber, wer hätte daran gedacht!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. von Ernst von Feuchtersleben (1806-1849)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_816.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)