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Ritter. Einen Augenblick zagten Gerhard’s Bauern. Aber er ermuthigte sie, indem er auf den Abt von St. Michael hinzeigte, der in blankem Harnisch den Mönchen und Bürgern voranschritt, während ihm ein Scapulier vom Helm bis zum Gürtel herabrollte. „Ji Menner met den Hunen,“ rief Gerhard den wankenden Bauern zu, „wat steit ji da sau, seit mal, wu de Mönnik fechtet!“ (Ihr Männer mit den Hüten, was steht ihr da so, seht mal, wie der Mönch ficht.) Und die Wankenden ermannten sich; die Gegner wandten ihre Rosse in Verwirrung, ritten ihr eigenes Fußvolk nieder und verwickelten ihr ganzes Heer in ihre Flucht. Die Bischöflichen hinter ihnen her. Was sich nicht gefangen gab, wurde erschlagen oder in die Fuse gejagt. Erst die Nacht und ein furchtbares Wetter mit Donner und Blitz machten der Verfolgung ein Ende. Die heilige Moritzfahne der Magdeburger wurde erbeutet, eine Menge vornehmer Leute, darunter ein Graf von Anhalt, ein Graf von Querfurt, ein Herr von Saldern, der Ritter Johann von Hadmersleben, mit dem sein Geschlecht erlosch, bedeckte den Boden als Leichen, Andere, unter ihnen die Führer der Feinde Gerhard’s, Herzog Magnus und der „ehrsame Vater in Gott“, Bischof Albert von Halberstadt, sowie einer der Ahnherren des jetzigen preußischen Ministerpräsidenten, Ritter Nicolaus von Bismarck, wurden gefangen nach Gerhard’s Burgen gebracht und mußten sich mit hohen Summen lösen. Der siegreiche Bischof aber hielt der Mutter Gottes sein Versprechen. Sie wohnte fortan unter einem goldnen Dache, dessen Gestalt ein Reliquienbehältniß uns aufbewahrt hat.

Das Ringen der Bürgerschaft nach Unabhängigkeit von den Bischöfen und freier Entwickelung ihrer Interessen begann frühzeitig und setzte sich, fast immer erfolgreich, durch das ganze Mittelalter und bis über dasselbe hinaus fort. Die Kaufleute hatten schon unter Bernward directen Handel mit England getrieben. Berühmt waren die Goldschmiede Hildesheims. Daneben blühte die Weberei. Die Stadt erweiterte sich mehr und mehr und nahm zugleich an Wohlstand zu. Die Bischöfe waren häufig in Geldverlegenheiten, und sie bedurften dann die Hülfe der Bürger, die sie mir Abtretung von Gerechtsamen erkaufen mußten. Was die Stadt nicht erkaufen konnte von Privilegien, wußte sie sich, zäh ihr Ziel verfolgend, bei passender Gelegenheit zu ertrotzen. Das Ergebniß dieses Kampfes zwischen der Bürgerschaft und ihren Fürsten war, daß Hildesheim schon zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts, wo es Mitglied der Hansa wurde, eine thatsächlich freie Stadt im Stifte war. Im Jahre 1292 bestätigte der Bischof noch die Gilden der Leinweber und Knochenhauer, später entstehende Handwerkergenossenschaften bedurften solcher Genehmigung nicht mehr. Als das fünfzehnte Jahrhundert begann, war die Stadt im unbestrittenen Besitz der Gerichtsbarkeit und Polizei, sie erhob Zölle und Steuern, schlug Münzen und fühlte sich so stark, daß sie sich allerlei Eigenmächtigkeit gegen die Bischöfe erlaubte, die dagegen nur noch Klagen hatten. Blos noch Aeußerlichkeiten, wie die Huldigung, gestand man den Fürsten zu, die lediglich im ältesten Theile Hildesheims, der durch einen Mauernkranz von der Altstadt geschiedenen Domfreiheit, und nach einigen Beziehungen in der Neustadt noch als gebietende Herren schalteten.

Die Reformation fand in Hildesheim erst spät Eingang. Als deren Geist sich in den unteren Ständen, unter den Handwerksgesellen und Kleinbürgern regte, trat ihm der Rath, an seiner Spitze der energische Bürgermeister Christoph Wildesüer, in Gemeinschaft mit dem Bischofe mit scharfen Verboten entgegen. Aber die Zahl der Freunde Luther’s wuchs allmählich, und als sich 1542 das Heer des schmalkaldischen Bundes dem Stifte näherte, schloß man sich demselben an, und die Reformation wurde eingeführt.

Späteren Versuchen des Bischofs, dem alten Glauben wieder Geltung zu verschaffen, setzten die Bürger, jetzt eifrige Lutheraner, trotzigen Widerstand entgegen. Die katholisch Gebliebenen, namentlich die Mönche, waren schwerer Unbill ausgesetzt. Eingriffe in die fürstbischöfliche Jurisdiction, Benachteiligungen des geistlichen Besitzes waren an der Tagesordnung. Ein Amtmann des Bischofs, der einen Bürger geschlagen, weil er unbefugt in der Innerste gefischt, wurde ohne Proceß vom souveränen Volke verurtheilt und trotz seiner vornehmen Verwandtschaft auf der Steingrube vom Kohlenträger der Stadt enthauptet.

„Die Einwohner Hildesheims,“ so schrieb vor langer Zeit Lauenstein, einer der Historiker der Stadt, „sind eines hitzigen, heftigen, zu kühnen Thaten inclinirenden Naturells; will man ihr Temperament etwas genauer determiniren, so ist wohl gewiß, daß die meisten temperamenti cholerico-sanguinei, die wenigsten aber temperamenti cholerico-melancholici sind.“ Das war damals, und das ist noch heute so. Die Hildesheimer sind im Durchschnitt von ihren niedersächsischen Nachbarn durch Haltung und Gebahren vielfach verschieden, lebendiger, rascher, freiheitslustiger, mehr zu Parteiungen geneigt, vielleicht weil sie theilweise von anderm Blute sind, wahrscheinlicher, weil das alte republikanische Leben in ihnen nachwirkt.

Die erwähnte Gemüthsart der Hildesheimer gab sich nach ihrer edlen Seite auch im dreißigjährigen Kriege kund, in welchem sie auf das Entsetzlichste zu leiden hatten. Pappenheim erzwang von der Stadt Aufnahme einer kaiserlichen Garnison, welche sofort allerlei Gewaltthat zu verüben begann und namentlich den Rücktritt der Bürger zur katholischen Kirche zu erzwingen versuchte. Die Kirchen wurden den Lutherischen genommen, ihre Geistlichen, bis aus wenige vertrieben, die Katholiken auf jede Weise geschont, die Protestanten auf jede Weise gedrangsalt, die Convertiten erfuhren alle denkbare Bevorzugung. Aber dennoch traten von den zweitausend Bürgern damals nur zwei wieder in die alte Kirche ein!

Noch übler erging es der Stadt im folgenden Jahre, als braunschweigische Truppen vor ihren Mauern eintrafen. Die Bürger wurden jetzt von dem kaiserlichen Commandanten aufgefordert, für den Kaiser die Waffen zu ergreifen. Sie weigerten sich, und alle Mittel, sie zur Nachgiebigkeit zu bringen, Güte wie Gewalt, waren vergeblich. Der Rath schwankte, aber die von ihm berufene Bürgerschaft blieb bei ihrer Weigerung, und nun wurde hier von den Kaiserlichen so arg gehaust, wie in keinem größeren Orte des römischen Reiches. Daneben stieg durch die Belagerung der Mangel am Nothwendigsten auf kaum glaubliche Höhe. Zuletzt hatte die Noth einen solchen Grad erreicht, daß man von Seiten der Bürgerschaft den Commandanten bat, in Masse die Stadt verlassen zu dürfen, und daß, als dies abgeschlagen worden, der Rath allen Ernstes darüber berieth, ob man sich nicht das Leben nehmen sollte.

Endlich, als zwei kaiserliche Heere, die der Garnison Entsatz bringen sollten, geschlagen worden waren, übergab der Commandant Gryfort die Stadt. Dieselbe war gründlich verarmt und in den meisten Theilen verödet. Ein Viertel fast ihrer Häuser war ganz verschwunden, über dreihundert der übriggebliebenen standen allein in der Altstadt leer. Jahrhunderte vergingen, bevor die Gemeinde und die Einzelnen wieder zu einigem Wohlstande gelangten. In der Zwischenzeit bot die Stadt mehr als ihre größeren Nachbarstädte das Bild der Armuth und Kraftlosigkeit.

Aber wenn der alte Wohlstand geschwunden war, so nicht der alte Unabhängigkeitssinn und die alte Lebendigkeit und Ausdauer in Vertheidigung wirklicher oder vermeintlicher Rechte. Die Braunschweiger wollten durch Einnahme der Stadt ein Besitzrecht auf dieselbe erlangt haben. Die Bürgerschaft erkannte diesen Anspruch nicht an und setzte Wiederherstellung des alten Verhältnisses durch. Später versuchten einzelne Bischöfe, ihre Machtbefugniß über die Stadt wieder mehr auszudehnen. Die Hildesheimer aber vereitelten diese Angriffe jedesmal. Der Rath maßte sich bisweilen an, Dinge zu verfügen, die gegen das Interesse der Stadt waren, allein sofort war die Bürgerschaft gegen ihn auf den Beinen, und fast immer wußte sie ihren Willen durchzusetzen. Die Chronisten der Stadt haben noch im vorigen Jahrhundert eine ganze Reihe solcher Kämpfe zu verzeichnen. Auch die einzelnen Theile der Stadt befehdeten sich bisweilen in bitterem Ernste, und namentlich der den Neustädtern aus alten Privilegien erwachsene Zwang, nur altstädtisches Bier zu trinken, führte 1791 bis 1793 zu Excessen, die fast mit Blutvergießen endigten. Die verlorene alte Kraft wuchs langsam wieder, das alte Leben und die alte Parteisucht waren niemals ganz gewichen. Hildesheim trat in das neue Jahrhundert als ein Anachronismus ein. Viele Aeußerlichkeiten der Vergangenheit waren erhalten, allein sie waren meist Formen ohne Inhalt. Gleichgültig sahen daher die Meisten zu, als 1801 Preußen für die auf dem linken Rheinufer an Frankreich abgetretenen Landstriche unter Anderem mit der Stadt und dem Stift Hildesheim entschädigt wurde und das alte republikanische Wesen nun auch in der Form ein Ende hatte. Auch als fünf Jahre darauf die Stadt zum Königreich Westphalen geschlagen wurde und Hildesheim die Eigenschaft einer Unterpräfectur des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_007.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)