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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

gehüllt, in dem strömenden Regen auf der Chaussee rüstig bergan schritt. Aus einigen hastigen Gesticulationen des Herrn Müller schloß ich, daß derselbe vielleicht ungehalten auf mich sei, allein der Förster meinte lachend, dies Händefechten habe weiter nichts zu bedeuten; er habe das schon oft an Herrn Müller beobachtet.

Der Rest des Vormittags verging uns rasch in Betrachtung der stattlichen Geweihsammlung. Viel Neues war seit meinem letzten Hiersein hinzugekommen und höchst wundersame Geschichten knüpften sich namentlich an die Erwerbung der „monströsen Rehbocksgehörne“.

Beim Mittagstisch hatte ich denn auch das Vergnügen, Herrn Müller vorgestellt zu werden. Es war ein schmächtiger junger Mann, mit blassem Gesicht und glatt am großen Kopf herabgekämmtem flachsgelben Haar. Um Kinn und Oberlippe wucherte ein Wald weißlicher Stoppeln, welche noch unentschieden zu sein schienen, ob sie sich zu Haar oder Federn ausbilden sollten. Dazu trug er eine große, blaue Brille und einen deutschen Rock wie Vater Arndt’s Statue auf dem alten Zoll in Bonn. Uebrigens war Herr Müller sehr schweigsamer Natur und nahm an der ziemlich lebhaften Conversation während der Tafel nur geringen Antheil. Als ich ihn bei einer geeigneten Gelegenheit wegen der heute Morgen verursachten Störung um Entschuldigung bat, lächelte er sehr zerstreut, murmelte einige unverständliche Worte und fuhr mit den gespreizten fünf Fingern der rechten Hand langsam von den Augen herauf über die Stirn und durch das Haar, wobei sein Blick dieser Bewegung folgte und an der Zimmerdecke träumerisch haften blieb.

Sobald das Dessert aufgetragen wurde, erhob sich Herr Müller und verließ mit einer höchst ceremoniellen Verbeugung das Zimmer. Sein ganzes Wesen stand in so auffälligem Contrast mit dem offnen herzlichen Tone, der in diesem Hause herrschte, daß ich nicht unterlassen konnte zu fragen, ob Herr Müller immer so schweigsam und zurückhaltend sei.

„Leider ja,“ versetzte mit einem tiefen Seufzer die gutmüthige Hausfrau, „und wir bieten doch gewiß Alles auf, um ihm den Aufenthalt bei uns so angenehm zu machen, wie das eben in der Waldeinsamkeit möglich ist.“

„Das einzige Wesen, dem er sich angeschlossen hat,“ setzte der Förster hinzu, „ist der Hund, den Sie eben draußen auf der Hausflur bellen hörten. Das Thier ist uns kürzlich zugelaufen, und unser Herr Müller will sich nicht wieder von ihm trennen. Nun, ich hätte ja nichts dagegen, er soll mir nur seinen Fixköter aus der Wildbahn lassen, oder wenigstens mit ihm auf den Wegen bleiben und ihn hübsch an der Leine führen, wie sich’s gehört, sonst muß ich ihn doch nächstens auf’n Kopf schießen.“

„Ach, Papa, thu’ das doch nicht!“ baten die Mädchen, „dann wird der arme Mensch ja ganz melancholisch; er geht so schon immer so trübsinnig umher.“

„Wenn man nur wüßte, was ihm eigentlich fehlt,“ sagte die Mama, „oder was ihm nicht recht ist; aber das ist ja eben das Unglück, daß er sich gegen Niemand ausspricht.“

„Er hat ganz gewiß eine unglückliche Liebe gehabt!“ flüsterten die beiden Mädchen fast einstimmig.

„Mit Euren Sentimentalitäten!“ brummte der Papa; „die Sache liegt ganz anders. Vor vierzehn Tagen war ich ’mal Morgens mit dem alten Kiekebusch oben auf der Platte bei den Hünengräbern wegen der Holzdiebe. Gegen acht Uhr kommt unser Herr Müller die Chaussee herauf und geht an den Tannen vorbei, zwischen die großen Granitblocke, wo wir versteckt lagen. Hier klettert er auf den dicksten Hünenstein, zieht ein langes, blaues Buch aus der Rocktasche und declamirt und gesticulirt in einer Weise, daß ich wirklich besorgt um den jungen Mann ward. Na, stören wollt’ ich ihn damals nicht, habe ihn aber von der Zeit an schärfer beobachtet und weiß, daß er diese Komödie jeden Morgen da oben bei den Steinen aufführt. Am vorigen Sonntag traf ich nun zufällig seinen Bruder, den Apotheker in Ringsdorf, und hielt es für meine Pflicht, ihm darüber Mittheilung zu machen. Der war aber ganz indignirt über meine Auffassung der Sache und fragte mich, ob ich denn noch gar nicht wisse oder bemerkt habe, daß sein Bruder ein ganz ungewöhnlich begabter Mensch sei und gewiß eine ,innere Berechtigung’ zum Dichter habe. Er arbeite seit zwei Jahren an einem antiken Trauerspiel in fünf Acten, es fehle ihm nur noch ein recht packender, tragischer Schluß, dann solle es sofort in Druck erscheinen und werde gewiß ,durchschlagen’.“

„Ein Trauerspiel also?“ seufzte die Mama und fügte scherzend hinzu: „dann haben die Mädchen am Ende doch Recht!“

„Aber er wird doch nicht sein eigenes Herzleiden drucken lassen?!“ meinte Maria, die älteste Tochter.

„Na, ich bitte Euch, Kinder,“ versetzte der Förster, „das Stück spielt vor zweitausend Jahren und ist betitelt: ,Cambyses’. Es kann also von einem Herzleiden nicht die Rede sein.“

In diesem Augenblick hüpfte Max in’s Zimmer und meldete, der Waldschütz Kiekebusch sei vom Reviergange zurückgekehrt und wünsche Rapport abzustatten.

„Soll herein kommen!“

Kiekebusch trat ein und meldete, daß er am Salzberge drei Stück Wild gesehen und gespürt, nämlich ein altes Thier mit seinem Schmalthier, welches wohl dieselben wären, die immer dort ständen; das dritte aber sei jedenfalls das alte Geltthier, das sonst immer oben auf der Platte in den Tannen, dem Steinbruche gegenüber, gestanden habe und welches der Herr Förster in diesen Tagen als Deputatstück abschießen wollte. Wahrscheinlich, setzte er leise flüsternd hinzu, habe es das viele „Predigen“ nicht vertragen können!

Der Förster war bei dieser Mittheilung vor Aerger aufgestanden und ging verdrießlich im Zimmer auf und ab. Kiekebusch ward mit der Weisung entlassen, morgen früh wieder im Försterhause zu erscheinen, das Wetter möge sein, wie es wolle.

Nach einer Pause hub die Mama an: „Na, um wieder auf das Trauerspiel zu kommen, Papa, Du willst uns aber doch nicht aufbinden, daß das ganze Stück von fünf Acten sich blos um den König Cambyses dreht?“

„Ich weiß es wahrhaftig nicht, Kind, ich weiß es nicht,“ versetzte der Förster ungeduldig, „ich weiß nur, daß es Thatsache, constatirtes Factum ist, daß Euer Herr Müller mit seinem Cambyses uns das Stück Wild von der Platte herunterdeclamirt hat! Da oben hatten wir es, so zu sagen, im Sacke – jetzt steht es unten im Salzberge und der Salzberg ist groß, da mag es der Kuckuck suchen bei dem Regen! Wenn Ihr nun zum Sonntag keinen Wildpretsziemer habt, so ist das nicht meine Schuld, dann könnt Ihr ein Paar von Euren magern Gänsen schlachten.“

Am Sonntag war nun aber Anna’s neunzehnter Geburtstag und man erwartete zu diesem Familienfeste eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft. Die Damen erschraken daher nicht wenig ob der Mittheilung des Herrn Papa, sie steckten flüsternd die Köpfe zusammen und hielten einen Rath, dessen Endresultat war: ein Wildpretziemer müsse bis morgen Abend beschafft werden auf gutem oder bösem Wege!

Der Revierförster hatte inzwischen seinen Humor wiedergewonnen und wandte sich lachend zu mir: „Nun, sehen Sie ’mal, Herr B., ein vollständiges Weibercomplot! Da werden wir uns morgen früh doch wohl ’n Bischen zusammennehmen müssen, sonst sind unsere Damen capable, sich wegen der Wildpretlieferung direct an Herrn Müller zu wenden.“

Als wir am nächsten Morgen ausrückten, erwartete uns Kiekebusch schon vor der Hausthür mit dem Schweißhund am Riemen. Das Wetter war hell, aber kalt und stürmisch; wir schritten rüstig mitten auf der Chaussee bergan, während links und rechts kleine Bächlein gelben Lehmwassers in Folge des anhaltenden Regens herabrieselten.

Bei der Tannendickung oben auf der Platte angelangt, spähten wir vergebens am Boden nach einer frischen Fährte, dafür drang der laute Schall einer menschlichen Stimme von den Granitblöcken hinter den Tannen her an unser erstauntes Ohr.

„O du blutiger Heiland,“ sprach der Förster, „da ist der unglückliche Müller schon wieder im Gange! Nun, kommt nur hinunter nach dem Salzberge, hier oben suchen wir doch vergebens!“

Wir gingen nun seitwärts hinter den Tannen vorbei, um Herrn Müller nicht zu stören. Als wir eine Schneiße passirten, erblickte ich ihn von der Hinterseite; er stand auf dem höchsten Steinblocke des Hünengrabes, trug den aufgespannten Schirm zum Schutz gegen den Wind im Nacken, fuchtelte mit einer langen Papierrolle in den Lüften umher und rief eben ein dreifaches Wehe! über „Pelusium und Memphis“ in den Sturmwind hinaus.

Der Alte schüttelte den Kopf und meinte im Hinabsteigen, er könne es dem alten Geltthier gar nicht verdenken, daß es dort

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_054.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)