Seite:Die Gartenlaube (1868) 055.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

ausgewandert sei; jeden Morgen so’n Schauerspiel, das könnte ihn auch aus dem Bette treiben.

In einem alten Wasserlaufe dicht vor dem Schlagholze am Salzberge fanden wir zuerst die frischen Fährten unsers Wildes. Kiekebusch sollte nun hier mit dem Schweißhunde halten, bis wir den jenseitigen Rückwechsel besetzt haben würden, worauf er mit dem Hunde, langsam der Fährte folgend, das Wild aus der Deckung lanciren sollte. Dieses war aber schon rege; wir waren etwa noch sechszig Schritt von unsern Ständen entfernt, als das Wild schon aus dem Schlagholz trat und, mitten auf der breiten Schneiße stehend, rückwärts sicherte nach der Gegend zu, wo Kiekebusch sich postirt hatte. Das Geltthier zeichnete sich durch seinen feisten, glatten Körper und seine helle, fast isabellgelbe Färbung auffällig und vortheilhaft vor seinen beiden Gefährten aus. Indeß schien es fast zu wissen, um was es sich handle, denn es hielt sich fortwährend im Hintergrunde, bald durch das Altthier, bald durch das Schmalthier gedeckt, so daß es trotz der kurzen Distanz höchst schwierig war, einen Schuß anzubringen. Endlich trat es einen Schritt vor, und ich zog vorsichtig das Gewehr an.

„Noch nicht!“ flüsterte mein Freund, „lassen Sie sich nur Zeit; jetzt könnte es bald gehen, schießen Sie mir um Gotteswillen das Schmalthier nicht todt – Pang! – bravo, der sitzt gut!“

Auf den Schuß war die ganze Wildgruppe wie durch einen Zauberschlag verschwunden. Während der Anschuß verbrochen und die Büchse geladen wurde, kam Kiekebusch heran und meldete, das alte Geltthier sei langsam und augenscheinlich schwer krank den Berg hinaus gezogen nach seinem alten Stande in den Tannen. Er war darüber sehr erfreut, denn wenn das Wild im Feuer gestürzt wäre, meinte er, so hätten wir saure Arbeit gehabt, es den schiefen Berg hinauf zu schleppen. Jetzt wäre es aber dicht an der Chaussee und könnte direct auf den Schiebkarren geladen werden, denn er sei überzeugt, daß es binnen zehn Minuten verendet sei. Wir beschlossen, eine halbe Stunde zu warten, ehe wir den Hund zur Fährte legten.

Gleich darauf erscholl aber von der Platte her das heftige Gebell eines kleinen Köters, dann hörten wir, wie er an dem Wilde in den Tannen hin und her und zuletzt in’s Freie hinaus jagte. Wir eilten den Berg hinan und hatten oben einen höchst überraschenden Anblick. Das Wild ging ziemlich flüchtig über die offene Haide, stellte sich aber alle Augenblicke vor dem Hunde und schlug nach diesem mit den Vorderläufen. Hinter dem Hunde drein lief Herr Müller in riesenhaften Sätzen, wahrscheinlich bemühte er sich, auf die nachschleifende Leine des Hundes zu springen, dann wieder schlug er mit seinem rothen Regenschirm nach dem Köter. Unser lautes Rufen verhallte in dem uns entgegenstehenden Winde, die tolle Hetze ging weiter und weiter und zuletzt verschwanden alle Drei in dem jungen Buchenaufschlag, welcher den Rand des Steinbruches umsäumte. In diesem Augenblick hörten wir das helle Knacken und Krachen eines niederbrechenden Stangenzaunes, dann war Alles still.

„Das giebt ’n Unglück,“ meinte Kiekebusch; „geben Se mal Acht, wenn wir ankommen, liegt die ganze Sippschaft unten im Steinbruch!“

Als wir in die Buchenschonung eindrangen, stießen wir zunächst auf das bereits verendete Wild, an welchem der Hund noch herumzausete. – Kiekebusch schoß ihm im Vorbeigehen in den Nacken, daß er kopfüber schlug. Einige Schritte weiter stießen wir auf einen eingetriebenen Filzhut, desgleichen auf einen Holzschuh. Beide Gegenstände wurden als Herrn Müller zugehörig erkannt, ebenso der rothe Familienschirm, welcher in höchst melancholischer Stellung in einem Buchenbusche schwebend angetroffen wurde. – Es handelte sich nun darum, den Eigenthümer ausfindig zu machen. Auf mehrfaches Rufen erfolgte endlich ein schwaches: „Hier!“ und wir athmeten wieder freier.

Dicht vor dem niedergebrochenen Geländer kniete der Gesuchte auf allen Vieren am Boden und tastete suchend mit den Händen unter dem hohen, nassen Haidekraut umher.

Sobald wir ihn erblickten, schrieen wir ihn einstimmig an, ob er Schaden genommen?

„Nein – nur etwas versimpelt – ich suche meine Brille“ – antwortete er trocken, indem er, ohne aufzusehen, noch immer links und rechts am Boden umhertastete.

Ueber das, was mit ihm vorgegangen, wußte Herr Müller nur wenig Auskunft zu geben. Unvorsichtigerweise war er in seinem Bestreben, den widerspenstigen Hund einzufangen, dem bedrängten Wild zu nahe gekommen, so daß diesem kein anderer Ausweg übrig blieb, als in den Steinbruch zu stürzen oder Herrn Müller über den Haufen zu rennen. Es wählte das Letztere, brach aber in Folge dieser letzten Anstrengung zusammen und verendete. Herr Müller war mit dem bloßen Schrecken und einer leichten Schramme über den Rücken davon gekommen.

Trotzdem hätte die Sache um ein Haar noch einen kläglichen Ausgang genommen. Kaum hatte sich Herr Müller nämlich wieder aufgerichtet und den verlorenen Holzschuh wieder angelegt, als er plötzlich kurz Kehrt machte und eiligst über den niedergetretenen Stangenzaun hinaus wollte. Kiekebusch erwischte ihn eben noch bei den Rockschößen und der Förster schrie ihm zu, wo er denn da eigentlich hinaus wolle?

„Wo hinaus?“ fragte Herr Müller verwundert; „ich wollte mein Manuscript holen – es muß bei dem Hünenstein liegen –“

„Da hinaus geht’s aber nicht nach dem Hünenstein,“ war die Antwort, „da geht’s in den Steinbruch hinunter! Verehrtester, kommen Sie mal eben hier durch den Busch – nanu?“ –

Herrn Müller’s Kniee begannen zu schlottern, als er in den Abgrund vor seinen Füßen hinabschaute. Es war todtenstill in dem weiten Raume da unten, nur ein heller, pickender Ton scholl aus der Tiefe leise, leise zu uns heraus, es war das Hämmern eines Arbeiters, welcher an der riesigen, hellen Sandsteinwand wie ein winzig kleines dunkles Pünktchen erschien.

„Nun, sehen Sie mal, Herr Müller,“ fuhr der Förster fort, „Ihr Herr Bruder sagte mir kürzlich, daß Ihnen blos noch ’n recht tragischer Schluß zu Ihrem Schauerspiel fehlte. Diesen Schluß hätten Sie hier sicher gefunden, wenn Kiekebusch Sie nicht noch erwischt hätte.“

„Jawohl, jawohl, Herr Müller,“ bekräftigte Kiekebusch, der diesen noch immer zur Sicherheit beim Rockschoße festhielt, „wenn Sie dahinunter gesegelt wären, dann könnten Sie jetzt Ihre sämmtlichen Knochen in ’n Schnupptuch nach Hause tragen.“

Herr Müller trat jetzt schaudernd zurück und meinte, auf seine Uhr sehend, es sei die höchste Zeit, daß er nach Hause gehe, um den Unterricht zu beginnen. Der Förster aber rieth ihm, sich direct in’s Bett zu begeben und Thee zu trinken, denn er schüttelte sich wie im Fieberfrost. Kiekebusch ward beordert, ihn zu begleiten und dann mir einem Tagelöhner und Schubkarren zurückzukommen, um das Wild heimzuführen.

Wir selbst blieben oben bei diesem zurück, da es aber anhub zu regnen, suchten wir Schutz unter den Hünensteinen und suchten zu gleicher Zeit versprochenermaßen nach dem Manuscript. Es war jedoch nirgends zu entdecken; wenn es wirklich von Herrn Müller auf dem Steine zurückgelassen war, mußte ein Vorübergehender es gefunden und mitgenommen haben.

Nach einer Weile erschienen die Leute und führten das Wild heim. Ich begleitete meinen Freund noch zu einem andern District, wo er den Fortgang verschiedener Waldarbeiten inspiciren wollte. Als wir heimkehrten, baumelte das „Deputatstück“, sauber aufgebrochen, bereits hoch am Haken unter der Rollwinde. Kiekebusch stand daneben und schaute, sein Pfeifchen schmauchend, den Hunden zu, welche gierig das auf dem Hofe liegende Gescheide verzehrten. – Herr Müller lag im Bette und schwitzte Trübsal.

Das Manuscript ward im folgenden Frühjahr völlig verwittert und verwaschen in den Buchen am Steinbruche durch Kiekebusch aufgefunden. Herr Müller hatte den Verlust inzwischen bereits verschmerzt, soll auch gar keine Versuche zur Fortsetzung des „Cambyses“ gemacht haben, überhaupt nach jener Katastrophe ganz vernünftig geworden sein.

Wie ich höre, ist er später nach Amerika gegangen, hat in New-York in Verbindung mit einem Landsmanne eine Guttaperchafabrik angelegt und später in Petroleumspeculationen in kurzer Zeit bedeutendes Vermögen erworben. Im vorigen Jahre kam er zurück, um die immer noch reizende Anna als seine Gattin in die neue Heimath jenseits des Oceans zu führen.

Der große Hünenstein auf der Platte aber heißt bis auf den heutigen Tag in der ganzen Umgegend: Müller-Kanzel.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_055.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)