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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Im Hause Robert Stephenson’s.

Von M. M. v. Weber.
I.

Es giebt noch keinen Ruhm für den deutschen Techniker! Noch ist das Wissen, das die Körper von der bindenden Macht der Schwere befreit, den Gedanken so schnell als er entsteht um den Erdball wandern läßt, das uns kleidet, nährt und behaust, in denjenigen Kreisen der civilisirten Welt, in denen der Ruhm entsteht und wohnt, jenem Können nicht ebenbürtig erklärt worden, welches die Geister schmückt und die Seelen erquickt. Noch ist die Technik nicht salonfähig in der guten Gesellschaft, noch ist die gute Erziehung nicht verpflichtet, von ihr Notiz zu nehmen. Geht durch die Säle einer Bildersammlung. Alle die ersten Fragen, die ihr von den hohen Werken thun hört, gelten dem Namen des Meisters, der sie schuf, die zweiten erst dem Gegenstande des Werkes; wohlweislich fragt der Hörer im Concert: von wem ist diese Sonate? ehe er sich erlaubt, sie göttlich oder trivial zu finden. „Haben Sie den neuesten Roman gelesen?“ – „Von wem?“ lautet die sofortige Erkundigung. Jede Kostschülerin oberer Classe eines Pensionats würde erröthen, die nicht einige Notizen aus dem Privatleben Mirza Schaffy’s, oder Homer’s, oder Firdusi’s, oder sonst eines Dichters, von dem man wenig weiß, zu citiren wüßte, jedes gebildete Ladenmädchen kann sich gar nicht darin irren, daß die Geheimnisse von Paris von Eugen Sue, Soll und Haben von Freytag, und der Werther von Goethe ist.

Und nun fragt im selben Augenblicke, wo ihr diese präcisen Auskünfte erhalten, den vielgewiegten Diplomaten, der eben eine hochwichtige Depesche von Paris nach New-York abgesendet, also um den halben Erdball herum, dem Laufe der Sonne um einen halben Tag voraus, und die Antwort zurückhalten hat, ehe er von seinem Dejeuner aufsteht, fragt ihn, wer der große Mann sei, der dem Eisen gelehrt hat, Eisen auf Befehl des Menschenwillens anzuziehen; fragt den vielgereisten Kaufmann, der heut mit diesem Geschäftsfreunde in Paris, morgen mit jenem in Berlin die Conjuncturen vertraulich Auge in Auge bespricht; der euch, wenn ihr ihm von den herrschenden Stürmen und seinen Sendungen nach auswärts sprecht, mit dem Schmunzeln der Sicherheit antwortet: „Ich habe per Dampfer verladen“; fragt ihn, wer die Männer gewesen seien, die den Dampf, den er gedankenlos täglich aus seinem Theekessel aufsteigen sah, zu dem Geisterrosse der Apokalypse gemacht habe, auf dem die Menschheit ihren Zielen zubraust; fragt die hochwohlerzogene Dame, die in ihrem von süßen Parfüms durchdufteten, tageshell erleuchteten Salon in prachtvoll farbiger Robe ihre Gesellschaft in Erstaunen setzt, indem sie alle Geigengaukler und Clavierequilibristen der Neuzeit bis zum zweiundzwanzigsten Range hinab an den rosigen, beringten Fingern herzählt – fragt sie, wer die Leute waren, die es verstanden, den dunkeln Kohlenlagern drunten den Blumenduft, den Sonnenglanz, die Farben der jahrtausendalten Vorzeit abzugewinnen, die jetzt als Parfüms, als Gaslicht, als Seidenpurpur ihren Salon füllen, ihre zierliche Gestalt schmücken – sie werden alle, alle Nichts, oder Wenige sehr wenig von allen den Männern wissen. Und doch sind diese nicht weniger Evangelisten des Weltgeistes, als die größten und besten Denker und Schöpfer in irgend einem Bereiche des Wahren und Schönen. Aber noch gilt die Technik der civilisirten Welt, und vornehmlich in Deutschland, als unbequemer Eindringling aus den Schichten der materiellen Arbeit da drunten, noch wird sie im Staatsleben unmündig gegängelt – nicht ohne Schuld der Techniker, fügen wir gerecht hinzu, die es bei dem Streben nach fachlicher Tüchtigkeit noch allzusehr vergessen, daß wir Gentlemen sein müssen, wenn man uns unter Gentlemen gelten lassen soll –; noch ist die Technik nicht zutrittsberechtigt in der wahrhaft guten Gesellschaft, und deshalb steht noch in der Technik der Name der Meister nicht als schützender Geist neben den Werken wie in der Wissenschaft und Kunst. Und daher haben nur einzelne Namen aus ihrem großen segenvollen Bereiche den Weg zu den Schichten der civilisirten Gesellschaft gefunden, in denen der Ruhm zwar selten gesäet, aber immer ganz allein geerntet wird.

Diese bevorzugten Namen sind an den Fingern einer Hand herzuzählen; und wenn sie gleich zu den Besten gehören, so haben doch die Träger derselben fast immer es eben so sehr dem Reize einer meist mehr oder weniger verdächtigen, stets aber pikanten, mit ihrer Hauptleistung verknüpften Anekdote, als dem wirklichen Werthe der erstern zu verdanken, daß ihr Name unter Tausenden erwählt wurde. Die Geschichten vom Cirkel des Archimed, vom Apfel Newton’s, von dem Froschschenkel Galvani’s, vom Theekessel Watt’s, vom Mörser Berthold Schwarz’s sind die eigentlichen Handhaben, an denen die Welt den Ruhm dieser großen Männer anfaßt. Andere Namen wieder macht die Unablässigkeit, mit der, Menschenalter hindurch, die Tagesgeschichte sie an die trockene Registrirung von bedeutsamen Friedensthaten für das öffentliche Wohl knüpft, doch endlich den Ohren jenes Publicums zugänglich. Es sind dies meist solche, die von mehreren Generationen bedeutender Techniker hintereinander getragen werden.

Zu den letzteren gehört der Name Stephenson, den ein großer Vater dem großen Sohne mit gleicher Kraft des Geistes vererbte. Die Keime, die das Genie des Vaters trieb, hat das des Sohnes mit gleicher Energie kraftvoll entwickelt. Wir sehen in den verschmolzenen Existenzen dieser beiden Männer einen der in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit so seltenen Fälle, wo das Regiment der Welt es sich gleichsam zum Vorwurf gesetzt zu haben scheint, eine große Erfindung durch Licht und Wärme eines Genius vom Samenkorn bis zur Blüthe zu treiben und, da hierfür die Dauer und die Leistungskraft eines Menschenwirkens nicht ausreichte, dieselbe schon im nächsten Nachkommen zu repetiren. Beide Stephenson’s, Vater und Sohn’, sind Geister jener festen, klarblickenden, reinwaltenden Art, die der Engländer gern als die seinem Volk specifisch eigene betrachtet und mit dem stolzen Namen „starker angelsächsischer Geist“ bedeutsam kennzeichnet. Das, was von Eisenbahnen vor der That des älteren Stephenson existirte, war weniger eine Basis für sein Schaffen, als ein Vorspiel für dasselbe. Die Eisenbahn wurde erst zum Rüstzeug des Geistes der Civilisation durch die Erfindung der schnellen Locomotive. Mit den langsam dahinkriechenden „Puffing Billy’s“ der alten nordenglischen und schottischen Kohlenbahnen wäre sie ewig nichts weiter als nützliches Lastthier der Industrie geblieben.

Georg Stephenson, der Vater, erdachte die Locomotive, die den Menschen fünf Mal schneller durch die Welt trug, als er sich vordem jemals bewegt hatte – und die Distanzen in der materiellen und Geisterwelt schrumpften mit einem Schlage auf ein Fünftel zusammen; das Leben wurde länger, die Lebenskreise größer, die Grenzen weiter. Robert Stephenson, der Sohn, verdoppelte die Eilkraft des Apparats seines Vaters, verzehnfachte seine Fähigkeit, Lasten zu bewegen – und die dauernde Hungersnoth verschwand aus der civilisirten Welt, die Völker strömten ineinander, der Krieg erhielt neue humanere Formen, der unermeßliche Wagenzug, der aus der Provinz der Kohlen Wärme in die Provinz des Getreides geführt hatte, trug Brod aus dieser in jene zurück. Die menschliche Existenz trat in eine neue Phase, in deren Anfang wir uns erst befinden. – Robert Stephenson’s kolossale Leistungskraft umfaßte den ganzen sich mit ungeahnter Schnelligkeit ausbreitenden Bereich seiner Erfindung. Er baute die Bahnen auf allen Hauptarterien des englischen Verkehrs, als oberster technischer Leiter derselben, war Orakel und in allerhöchster Instanz angerufener Berather bei fast allen größeren Eisenbahnanlagen, nicht allein des europäischen Continents, sondern auch in Afrika und Amerika, und leitete endlich, bis in das Detail persönlich, die mächtige Fabrik von Locomotiven, die sein Vater im Jahre 1822 gegründet hatte und aus der seitdem über zweitausend solche Maschinen unter dem Einflusse seines zeichnenden und rechnenden Stiftes, eine jede immer die Vorgängerin an Kraft, Schnelligkeit, Reife der Construction, Tüchtigkeit der Ausführung und Eleganz der Erscheinung übertreffend, hervorgegangen sind.

Die in seine letzte Lebenszeit fallenden Pläne und Ausführungen, welche, bei aller Weisheit und allem Wissensreichthum der Conception und Durcharbeitung, in ihrer Erscheinung etwas von der Großheit der Ideen eines Pharaonen haben, gewähren das amnuthende Schauspiel eines Lebens, das, bis zur Abberufung des Meisters von seinem irdischen Wirkungskreise, an Freiheit und Größe des Schaffens gewinnt. Die Engländer pflegten ihn in dieser

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_073.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)