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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

reichliches Gras, Breitwegerich und Schöllkraut. Im ganzen Orte, wenn man ihn nach allen Richtungen durchstreift, sieht man nicht so viel Seelen wie an der Table d’hôte im dortigen Gasthofe. Es sollen dies aber fast lauter Beamte sein, vom großherzoglichen Oberamte, alle sehr fleißig, welche, wenn sie den Löffel weglegen, sogleich wieder zu regieren anfangen.

Drum saßen wir denn alsbald ganz allein an dem leeren Tischtuch. Alsbald zog auch eine unauslöschliche Sehnsucht nach einer beliebigen Ferne in unsere Herzen ein, und so eilten wir denn, das entgötterte Heiligthum so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Kaum daß wir noch unsere Zeche bezahlten und vom Wirthe Abschied nahmen. Eine gleiche Langweile, wie in St. Blasiens Schatten, hatte ich in diesem Leben noch nicht empfunden. Ich fühlte mich immer leichter, je mehr das tiefe Schnurren der Maschine verhallte, und als auch das blinkende Kreuz hinter dem Walde verschwunden, war es gerade, als wäre mir eine ganze kupferne Kuppel vom Herzen gefallen.

Nach Höhenschwand ging damals unser Weg – nach Höhenschwand, welches so zu sagen der Berg Nebo ist, von dessen Gipfel aus man das ganze Land Canaan (V. Mos. 34), nämlich die Schweiz und alle ihre Alpen vom Jura bis hinüber zu den Tiroler Bergen übersehen kann. Die Schweizer halten ungemein viel auf diese Aussicht, obgleich sie noch auf großherzoglich badischem Boden gelegen ist; sie ziehen oft clubweise herauf, um sie zu genießen, sie zeichnen sie kunstgerecht und beschreiben sie, so gut sie können, kurz sie lassen ihr die sorgfältigste Pflege angedeihen, wie einem theuren Hausschatz und edlen Kleinod.

Auch wir waren schon im Voraus befangen von ihrem mächtigen Eindrucke und zogen wohlbewaffnet einher mit Augengläsern, Opernguckern und verschiedenen Fernröhren. Aber als wir auf dem Belvedere, das eine Viertelstunde vom Dorfe gelegen ist, angekommen waren, sahen wir nichts als einen ungeheuren Wolkenvorhang, welcher vor der schönen Helvetia stand und uns alle ihre Reize, wie man zu sagen pflegt, neidisch verhüllte. Die untergehende Sonne beschien ihn wohl mit sanften Strahlen, er wurde auch gelb und roth davon, aber er erhob sich nicht. Nur da und dort, gerade über dem Horizont, sah man in weitester Ferne etliche silberne Flocken durchschimmern, fast wie zerrissene und zerstreute Zindelstücke. Das waren die Jungfrau, das Finsteraarhorn und andere Celebritäten. Die Basaltkegel des Hegau dagegen waren unverschleiert und deutlich sichtbar. Nachdem wir aber so viel erwartet hatten, wollten wir uns gar nicht herablassen, auch diese noch zu bewundern.

„Ein schmerzhafter Tag!“ seufzte da der Maler. „Diese langweilige Klosterfabrik und dieses langweilige Belvedere mit seiner unsichtbaren Aussicht! Jetzt, da ich mit der Natur kein Glück habe, gäbe ich Alles für einen kurzweiligen Menschen, namentlich, wenn er eine Nationaltracht anhätte, so daß man ihn ordentlich zeichnen könnte.“

„Ja, da müssen Sie,“ sprach ein Bauer, der auf dem nächsten Felde arbeitete, „nach Immeneich hinuntergehen, da isch e Hotz!“

„Hotz – Hotz – Hotz,“ wiederholte der Maler, „haben wir das Wort nicht schon gehört? ,Herrischried und Rickenbach, das sind die rechten Hotzennester,’ sagt’ es nicht der fürstliche Rath zu Donaueschingen? Auf, laßt uns hinuntergehen nach Immeneich, zum Hotzen, mich drängt das Herz, den Biedermann zu schauen!“

Also nach Immeneich zum Hotzen!






Eines deutschen Mannes Bild.
1. Aus Leipziger Kreisen.

Es war in der gährenden Zeit zwischen dem vorletzten italienischen Kriege und dem Beginn der Sammlungen für die preußische Flotte, als sich in einer der zahlreichen Trinkstuben, welche die weltbekannten Höfe und Durchgänge der alten Meßstadt Leipzig bergen, ein Kreis von politischen Glaubensverwandten zusammenfand, der selbst in dem vielfältig angeregten, gescheidten Klein-Paris in mehrfacher Hinsicht einzig in seiner Art war. Genauer gesprochen, war sein Geburtsort der Officierstisch der Kitzing’schen Bierwirthschaft im Petrinum.[1] Rasch gewachsen, oder, um mit dem komischen Dichter der Genossenschaft zu reden,

„Wie Israel, als es gewachsen,
Aus der Aegypter Mitte schwand“,

zog dieselbe dann hinüber zum zweiten runden Ecktisch des Zimmers. Dienstag und Freitag waren die Tage, an denen man sich Abends zwischen sieben und neun bei dem schweren Gerstentrank des wackern Wirths zu sammeln pflegte, um in Ernst und Scherz über alle möglichen Dinge und einige andere seine Gedanken auszutauschen. Namentlich aber besprach man die politischen Fragen und Sorgen der Zeit, und nach dem Geiste, in dem dies geschah, glaubte die böse Welt sich berechtigt, diesen Kreis von deutschen Patrioten „die preußische Verschwörung“ zu nennen. Sehr leichtfertig, schon wenn man sich an den obengemeldeten Ursprung desselben erinnerte. Es waren nicht viele Männer, die sich hier zu zwangloser Unterhaltung und gegenseitiger Erbauung trafen, etwa so viele, wie ein rechtschaffener runder Tisch von Mittelgröße, wenn die Gäste artig zusammenrücken, zuläßt. Aber es war eine vortreffliche Mischung der verschiedensten Stände, Kräfte und Erfahrungen, und es gab unter den Mitgliedern der Tafelrunde Namen vom besten Klange. Man hörte manche kluge Rede, manch’ warmes Wort. Gute Laune würzte das Gespräch mit ergötzlichsten Einfällen. Wir hatten da unter uns, um dem erwähnten humoristischen Poeten noch einmal das Wort zu gönnen,

„Geistvollste Blicke, Glanzmomente –
Gemüth, Charakter und Verstand.“

Alle Berufsarten hatten dem „Kitzing“ werthe Mitglieder gestellt. Die Schule war da und die Universität, die Rechtsgelehrtheit und die Geschichtsschreibung, die Kaufmannschaft und der Buchhandel, Verwaltung und Vertretung der Stadt, der „hohe“ Landtag, die dramatische und epische Poesie, Naturwissenschaft und Publicistik. Selbst die Diplomatie glänzte im System der Genossen, und sogar durch ein Doppelgestirn. Die Mehrzahl der Freunde waren Leipziger, unter ihnen befand sich der frühere zweite Bürgermeister der Stadt und dessen späterer Nachfolger. Andere waren Dresdner, darunter Heinrich von Treitschke, der streitbare Redner, der freisinnige und glänzende Essayist. Wieder Andere gehörten ihrer Heimath nach einer weitern Ferne an, wie Julian Schmidt, der Literarhistoriker, und der Verfasser von „Soll und Haben“. Die Schweiz hatte Salomon Hirzel, den Goethekenner, England Crowe, den viel gewanderten, auf den Schlachtfeldern der Krim und Italiens ebenso wie in den friedlichen Stätten niederländischer und romanischer Kunst bekannten Schriftsteller, gesandt. Es war in der That ein Kreis, in dem sich’s gut Hütten bauen ließ, anregend, wohlthuend, wie wenige. Jeder trug sein Theil bei zu der Summe guter Gedanken, welche in leichtem Geplauder über dem Glase sich begegneten, der Eine Gemüthlichkeit, der Andere scharfes Urtheil, wieder ein Anderer Erlebnisse und Erfahrungen eines vielbewegten Lebens. Alle waren gute Cameraden, Eins in Liebe und Haß, Eins in dem Zusammenklang der Ueberzeugungen, die sie über die höchsten Interessen der Nation gewonnen hatten, und der Hoffnungen und Forderungen, die sie daran knüpften. Alle waren Eins auch in der Verehrung vor dem würdigen Haupte der Gesellschaft, vor dem, dessen Geist und Wesen sie vorzüglich zusammengeführt hatte und dessen Liebenswürdigkeit das ganze Rund vor Allem erwärmte, wie die Sonne die Planeten ihres Systems in der aufrichtigsten Verehrung vor Karl Mathy, dem damaligen Director der Creditanstalt in Leipzig, dem nachmaligen Ministerpräsidenten in Baden.

Nicht häufig geschieht es, daß ein Süddeutscher rasch heimisch wird im Norden, zumal wenn er in gereiftem Alter steht, und nicht oft begiebt sich’s, daß wir Verstandesmenschen von der norddeutschen Ebene einem Volksgenossen aus dem Süden schnell unser Herz zuwenden. Beide Theile der Nation haben ihre besonderen Vorzüge, die zu ihrer Annäherung führen, Leide aber auch Eigenschaften, die sie für den ersten Augenblick einander fern halten. Der Süden ist dem Norden zu gemüthlich, zu laut, zu idealistisch, dieser jenem zu verständig, zu zugeknöpft, zu praktisch. Nichts von dem Allen paßte auf das Verhältniß der Gesellschaft im Leipziger

  1. Ein der Juristenfacultät gehöriger Gebäudecomplex auf der Petersstraße.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_152.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)