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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Vorspielers und Hofconcertmeisters der Kaiserin gesellte. Ein eigenthümlicher Zufall zwang ihn, seine vielen früher theils entworfenen, theils ausgeführten Werke von Neuem zu componiren. Auf der Reise nach Petersburg nämlich mußte er die Kiste, welche seine sämmtlichen Manuscripte enthielt, an der Grenze zurücklassen, weil man in den Noten eine geheime revolutionäre Chiffreschrift argwöhnte, wie denn dergleichen geheime Correspondenzen damals wirklich vorgekommen sein sollen. Man hielt ihn für einen Emissär und er war nahe daran, nach Sibirien transportirt zu werden. So mußte er sich längere Zeit in Petersburg verborgen halten, bis es ihm gelang, seine kritische Lage durch den Grafen Melhorsky, seinen Gönner, zur Kenntniß der Großfürstin gelangen zu lassen, wodurch von weiterem Vorgehen gegen ihn abgelassen wurde. Aber seine Manuscripte waren trotz aller Nachforschungen nicht wieder zu erlangen, und er hat sie niemals wieder gesehen. Und so sah sich Rubinstein genöthigt, an die Wiedergeburt des Verlorenen zu gehen, was ihm auch mit Hülfe seines eminenten Gedächtnisses größtentheils gelang. Diese Thätigkeit,, verbunden mit neuen Schöpfungen, die jetzt in ununterbrochener Folge hervorquollen, hielt ihn bis zum Jahre 1851 in Petersburg gefesselt.

Nun erachtete es Rubinstein an der Zeit, mit seinen Werken vor die Welt zu treten. Von seinen beiden Gönnern mit Mitteln großmüthig versehen (der Graf allein machte ihm ein Reisegeschenk von zweitausend Silberrubeln), trat er drei Jahre später selbstständig seine erste Rundreise als Virtuos und Componist nach Deutschland, Frankreich und England an. Als Virtuos feierte er überall Triumphe, während mit seltener Ausnahme die Kritik sich seinen Compositionen, zumal im Beginn, gegnerisch, um nicht zu sagen erbittert feindlich zeigte. Indessen hatten die Leipziger Verleger eine gesundere Ansicht, sie veröffentlichten seine Werke und honorirten sie gut. Jetzt erschienen Rubinstein’s Compositionen aller Art massenhaft auf dem Musikmarkte, was ihm von mancher Seite den Vorwurf des Vielschreibers zuzog. Bedenkt man indessen, daß diese Werke in einer längeren Reihe von Jahren entstanden und nur die Verhältnisse eine Herausgabe auf einmal mit sich brachten, so erschien dieser Vorwurf grundlos. Der uns vergönnte Raum erlaubt nicht, allen seinen Hin- und Herfahrten ausführlich zu folgen. Wir wollen nur einige Hauptmomente kurz berühren. 1856 war er zu den Feierlichkeiten der Krönung des Kaisers nach Petersburg zurückgerufen worden. Hier componirte er seine Jubelouverture, für deren Widmung er vom Kaiser mit einem kostbaren Juwel belohnt wurde. Im Gefolge der Großfürstin ging er mit nach Nizza, machte dann wieder eine größere Kunstreise, wobei er immer fleißig componirte, meist große Werke, z. B. ein Oratorium, „das verlorene Paradies“, eine große Oper, „die Kinder der Haide“, für Wien.

Rubinstein’s Stellung in Petersburg, sowie auch sonstige Verhältnisse daselbst hatten sich inzwischen derart gestaltet, daß er es unternehmen konnte, einen lange gehegten Plan mit Aussicht auf Erfolg in’s Werk zu setzen. Von mächtigen Gönnern unterstützt, stand binnen Jahresfrist die „Russische Musikgesellschaft“ als eine mit künstlerischen Kräften und Geldmitteln reich dotirte Anstalt vollständig in’s Leben gerufen da, und ein Jahr später war auch das alle Fächer der Tonkunst umfassende Conservatorium in Wirksamkeit gesetzt. Für beide Institute hat er eine aufopfernde und für die dortigen Zustände heilsame Thätigkeit entwickelt. Als Leiter des Conservatoriums z. B. oblag ihm nicht nur das Gesammte der Verwaltung, sondern auch die Organisation und Ueberwachung des Unterrichtes, die Abhaltung der Zöglingsübungen, endlich die Ertheilung des Compositionsunterrichts.

Bei dieser erdrückenden Beschäftigungsfülle gab er noch Privatunterricht und fand Zeit für’s Componiren. Es entstanden in dieser Epoche die lyrische Oper „fera mors“ (in Dresden gegeben), zwei Clavierconcerte, eine große zwei- und eine gleich große vierhändige Clavierphantasie, Kammermusik, Chöre, Lieder, Clavierstücke, die Symphonien in A- und C-dur („Ocean“) etc. Eine so aufreibende Thätigkeit konnte nur aus der hingebendsten Liebe zu den von ihm geschaffenen und zu so hoher Blüthe gebrachten Anstalten hervorgehen, und sie macht es zugleich erklärlich, daß ein Eingreifen anderweitiger, mit seinen Tendenzen im Widerspruch stehender Einflüsse ihn bestimmen mußte, diese Schöpfungen zunächst sich selbst zu überlassen.

Es erübrigt nur noch, von dem Componisten Rubinstein, wie er heute vor uns hintritt, ein gedrängtes Bild zu entwerfen.

Bei der ungeheueren produktiven Kraft, die in diesem Künstler lebt und wirkt, kann man den Culminationspunkt seiner Entwickelung, so bedeutend und ausgeprägt seine Individualität bereits erscheint, noch nicht absehen; sicher steht er aber, auf gewissen Gebieten, jetzt schon nicht unter den Epigonen, sondern als ein Unicum da.

Seine Erfindung ist von vollster Ursprünglichkeit, schwunghaft, nicht angekränkelt von des Gedankens Blässe, männlich, gesund, tief und warm, groß und gewaltig. Er beherrscht alle Formen und Mittel mit Leichtigkeit, sein Geschmack ist von ausgesuchter Feinheit, seine Richtung durchaus edel. Fassen wir den allgemeinen Charakter der Rubenstein’schen Musik, seine Art und Weise in Tönen zu denken und zu fühlen, in’s Auge, so müssen wir diese als eine der Entwickelung des modernen Bewußtseins vollkommen angemessene, ja gewissermaßen als den Ausdruck dieser Entwickelung selbst erkennen. Die Breitzügigkeit seiner Melodie, der Reichthum und die Feinheit seines harmonischen Gebahrens stempeln ihn im edelsten Sinne zum modernen Künstler, der vorzugsweise auf absolut musikalischem Boden steht.

In seinen Gesangcompositionen sucht er nicht die sogenannte Melodie der Sprache, sondern die Melodie des Gefühls. Zu der Höhe, philosophische Ideen in seinen Instrumentalcompositionen auszudrücken, vermag oder will er sich nicht erheben; hingegen analogisirt er die mannigfaltigsten Stimmungen des Gemüths in prägnanten Weisen. Am nächsten schließt er sich der Richtung Mendelssohns und Schumann’s an, insoweit als bei einem originellen Talent von einem Anschluß die Rede sein kann. Als Melodiker ist Rubinstein weniger elegisch-sentimental als Mendelssohn, weniger verdüstert als Schumann, kraftvoller als Beide. Seine Musik ist vorwiegend wohlgelaunt; manchmal wird sie verdrossen, jammernder Weltschmerz ist ihr aber fremd. Jenes gewisse strengmarkirte, entschieden auftretende, scharfgeschnittene Relief seiner Themen und die phantasiereiche, immer neu erscheinende Umwandlung derselben erinnern an Beethoven’s Geist und Kunst, – der natürliche Zauber seines Gesanges an Schubert’s tiefgemüthvoll hervorströmenden Melodienquell.

Daß Rubinstein einen bedeutenden Fond gediegener literarischer, wissenschaftlicher und socialer Weltbildung, daß er im Umgange den Mann der feinsten Weltbildung und umfassende Belesenheit zeigt, wird Jeder wissen, der in näheren Verkehr mit ihm zu treten Gelegenheit hatte und hat. Als Mensch ist Rubinstein ein offener, gerader Charakter, im Umgange von gewinnender Liebenswürdigkeit, bescheiden, ohne seinem Werthe etwas zu vergeben, im Gespräche geistreich, mitunter witzig, wohlwollend im Urtheil, gegen Freunde mittheilsam, im Allgemeinen mehr ernst als heiter. Vor zwei Jahren hat er sich mit einer jungen Russin aus vornehmer Familie verheirathet.

Als Clavierspieler ist Rubinstein so oft besprochen worden, daß nur Wiederholung möglich wäre. Er steht, seit Liszt in dieser Richtung der Öffentlichkeit entsagte, ohne Rivalen da. Wer ihn auf seiner jetzigen großen Rundreise zu hören Gelegenheit hat, wird dieses Urtheil bestätigen.




Eines deutschen Mannes Bild.

2. Grenchen.

Im December 1830 brach, vorzüglich durch die Bemühungen des trefflichen Munzinger, im Kanton Solothurn das Regiment der Geschlechter zusammen und mit ihm die alte „gute“ Zeit der Ausbeutung des Volkes durch Einzelne, der Rechtspflege, die mehr Unrechtspflege war, der vernachlässigten Verkehrsmittel, der verkommenen Schulen. Mit energischer Hand griff die siegreiche liberale Partei ihr Reformwerk an, mit Zähigkeit widerstand demselben die besiegte, indem sie dabei von der Geistlichkeit unterstützt wurde, die nichts versäumte, um das Volk gegen die neue Ordnung der Dinge aufzureizen. Namentlich mußten mehrere Gemeinden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_166.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)