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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Englische Sitten.

Beobachtungen und Randglossen. Von Arnold Ruge.
1. Essen und Trinken.

Die Sitten eines Volks sind seine lebendige Verfassung. Wir wollen die Sache hier aber populär nehmen und den Contrast, der augenfällig genug ist, hervorheben. Es ist nur zu verwundern, daß dies nicht schon öfter und schärfer geschehen ist. Wir beginnen billig mit der Selbstschöpfung des Menschen, mit dem Essen und Trinken. Rind und Schöps waren den weisen Aegyptern lebengebende Götter, sie sind es, richtig verstanden, noch heute, und stehen bei den Engländern entschieden oben an, womit nicht gesagt sein soll, daß gekochte Schinken hier keine Verehrer fänden.

Als ich 1849, nach der glänzenden, aber verunglückten Demonstration des 13. Juni gegen die Unterdrückung der römischen Republik durch die französische, Paris zu verlassen hatte, wußte ich in der That nicht gleich, wo ich eine Zuflucht finden sollte. Da erhielt ich einen Brief von meiner Freundin Josephine d’Alquen aus Arnsberg, die mich an ihren Bruder, den Dr. Friedrich d’Alquen in London empfahl. Dies brachte mich zu dem ersten Versuch, in England eine neue Heimath zu gründen. Ich reiste ab. In Ostende fand ich den Londoner Dampfer, und hier begann meine erste Bekanntschaft mit dem englischen Leben. Für meine Sachen dachte ich auf dem Schiff eine Marke zu bekommen: „ich würde sie schon wiedererkennen“, hieß es. Da die Fremdenbill noch existirte, so machte der Capitain eine Liste der Fremden; als ich ihm bemerkte, er habe meinen Namen nicht richtig geschrieben, erwiderte er: „Schon gut, schon gut! Name ist Name!“ und damit schlug er seine Mappe zu. Vor der Abfahrt wendete ich mich an den Schaffner und verlangte ganz continental „eine Portion“ von dem mächtigen Rinderbraten, der neben mehreren andern enormen Fleischschüsseln auf dem Tische stand. „Das steht Ihnen Alles zu Diensten,“ antwortete er und zeigte auf den reich beladenen Tisch, „schneiden Sie sich ab, bedienen Sie sich nach Gefallen. Was für Bier wollen Sie haben?“ Ich ließ ihn eine halbe Porter holen, den hatte man mir gegen die Seekrankheit empfohlen, und dachte: das wird eine schöne Rechnung geben. Die Rechnung wurde aber durch diese Ungezwungenheit nicht größer, es war nur der Unterschied der Sitte; bei uns die vorgeschnittenen Portiönchen, hier eine Reihe Fleischberge erster Größe, wie ich sie bis dahin allerdings noch nie mit Augen gesehen hatte.

Und ich sollte bald Vertrauen zu dem neuen System fassen; denn die Kölner Eisenbahn schüttete ein Rudel Engländer in die Cajüte, die mit einem heimischen Abendessen umzuspringen wußten. „Nun, das laß ich mir gefallen,“ rief Einer von ihnen aus, „da bekommt man doch wieder einmal ordentlich zu essen. Auf dem verwünschten Continent steht man hungriger vom Tische auf, als man sich niedersetzt. Sie waschen Einem den Magen mit warmem Wasser aus, das sie eine Suppe nennen, und dann überschwemmen sie das ausgekochte Fleisch noch mit Brühe, um Einen zu einem vergeblichen Essen zu verführen. Gott sei Dank, daß wir ’mal wieder einen ordentlichen Braten vor uns haben!“ Und nun ergriff er ein Messer, welches ich für den Säbel des Capitäns angesehen hätte, und schnitt uns Allen Scheiben Fleisch vor, auf denen wir die ganze Magna Charta hätten niederschreiben können. Es ist wahr, mit Befriedigung sieht man diese Fülle zu seiner Verfügung, aber am Ende rechnet der englische Wirth ganz richtig: der Gast kann doch nicht mehr als sich satt essen, und dafür zahlt er so und so viel.

Einigen Einfluß auf das Eßvermögen mag die Sitte, große Braten und ganze Käsebrüche vor sich zu sehen, denn aber doch haben. Man ißt hier mehr, vornehmlich mehr Fleisch und mehr trockene substantielle Kost, als auf dem Continent. Suppen werden wenig cultivirt, Saucen ebenfalls nicht; und ich finde mich nach achtzehnjährigem Aufenthalt diesen trocknen Substanzen gegenüber, wie z. B. kaltem Rinderbraten und großen rauchenden mehligen Kartoffeln, noch oft in Verlegenheit. Die großen mehligen Kartoffeln halten die Engländer für die besten. Die Spanier senden jetzt im Frühjahr schöne gelbe kleine Kartoffeln herüber, ehe hier noch welche reif werden. Dies ist die vollkommene Frucht, etwas ganz Ausgezeichnetes! Man kauft sie aber sehr billig, weil – sie nicht englisch und nicht mehlig sind. Alles, was in England wächst, gilt für feiner und besser, sogar die Trauben, die doch nur im Treibhause reif werden. Ein Bekannter von mir – ein alter Thor freilich – reiste eigens nach Paris, um Louis Napoleon eine große Traube aus seinem Treibhause zu bringen. Man hielt ihn lange hin, weil man ein Attentat hinter diesem Unsinn witterte. Als er endlich vorgelassen wurde, war die loyale Traube schon angefault, aber der Kaiser wußte dennoch die – Gesinnung zu schätzen, die sie ausdrückte.

Die Suppen, die man hier in England schätzt, sind dann meist ebenso nahrhaft und sättigend, wie die Fleischgerichte; so die Turtle- und Mockturtle- und Ochsenschwanz-Suppe. An diese derbe Kost, die nebenbei auch gehörig gepfeffert wird, hat der Neuling sich erst zu gewöhnen, ehe sie ihm bekommt. Keine Nation ist fester von dem Lehrsatz überzeugt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, als die englische. Mit Gepränge wird das Fleisch, das Geflügel, alle Eßwaaren, zu Weihnachten die Rosinen in den Schaufenstern ausgestellt. Ganze Berge von Rosinen sind an den Glasfenstern aufgeschüttet; kein Schaufenster des Continents beherbergte je dergleichen. Weihnachten, das Geburtsfest der jungen Sonne, ist zum Roastbeef- und Puddingfest geworden, wobei natürlich auch etwas Besseres getrunken wird, als gewöhnlich, das Weihnachtsbier, jede Art um einen merklichen Grad verbessert. Ein Geflügelhändler ziert um Weihnachten sein Haus von oben bis unten mit Geflügel. Dazwischen hängt die Stechpalme, Holly, mit rothen Beeren, und das Gas hat die ganze Schaustellung glänzend hervorzuheben. Ebenso strengt sich der Fleischerladen an – die Fleischerläden sind hier nicht aus den Straßen auf einen Fleischmarkt verbannt – ganze Hammel mit roth- oder blauseidenen Rosetten verziert, werden ausgehängt, den berühmten Saddle of Sussex Mutton (Sussexer Hammelrücken) nach außen, der besser sein soll, als Rehrücken, und ungewöhnlich große prachtvolle Rinderbraten von fünfundzwanzig bis fünfzig Pfund sieht man auf den Marmorplatten dieser Läden zur Schau gestellt. Auch zeigt es sich bald, daß diese Künstler für Kenner gearbeitet. Es bilden sich Gruppen vor solchen Ausstellungen, würdigen sie und wissen das Gute dieser Welt in dieser Form sehr zu schätzen. Hierbei ist zu bemerken, daß die Verehrung vor dem guten Braten auch einen officiellen Ausdruck erlangt hat. Das Lendenstück vom Ochsen heißt „Sir Loin“, gleich dem deutschen „Freiherr von der Lende“. Heinrich der Achte, auch sonst ein Schlächter, vollzog diesen Ritterschlag an dem Lendenstück. Wenn Einer den Titel Sir erhält, wird er noch heute zum Ritter geschlagen und so ein Bruder des Lendenstücks; aber hony soit qui mal y pense! Beide Leistenstücke zusammen, der Rücken mit den beiden Sir Loins oder der doppelte Sir Loin heißt dann Baron of beef, das heißt, der Rindsbaron. Ihre gegenwärtige Majestät ist eine große Liebhaberin von Rinderbraten, ja, sie soll ihn dem feinsten Wildpret vorziehen. Von dem letzten Festochsen kam der Baron in ihre Küche; er wog hundert Pfund, und es war kein Kochofen groß genug, ihn zu braten. So spottet der Baron der unzureichenden Vorrichtungen unserer Civilisation und deckt einen Mangel in der Verfassung Altenglands auf.

Große saftige Roastbeefs und Plumpudding sind allerdings Gerichte, die nach Deutschland verpflanzt zu werden verdienten. Plumpudding ist Rosinenpudding. Der Engländer nennt nämlich die Rosinen kurzweg plums, Pflaumen, und es sollte mich nicht wundern, wenn Mancher dies Ingredienz seines Nationalgerichts für eine einheimische Frucht hielte, wie er die spanischen Weine ohne Weiteres „unsere englischen Weine“ nennt! Und warum sollten die Deutschen sich nicht an diese Gerichte gewöhnen? Sagt doch schon der große Dichter:

„An gute Kost gewöhnt der Mensch sich leicht,
Wenn Du der schlechten gänzlich ihn beraubst.“

Bei aller Anerkennung der englischen Verfassung hinsichtlich des Essens und Trinkens, muß man aber doch sagen, daß sie im Essen eben so abergläubisch sind wie in ihrer Metaphysik. Sie essen absolut nichts, was sie „roh“ nennen, und wenn es roh ist,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_169.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)