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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und als das Register der Todten und der Lebendigen erschöpft, als die Wahlen zum Zollparlament erörtert waren, da trat eine tiefe Pause ein. Wenn der „Tarok“ nicht wäre, dann würden die Berge noch viel einsamer sein, und manchmal hörte man nichts als das Fallen der Karten und die tiefen Athemzüge derer, denen es schmeckte. Ohne Eile „ging der Engel durch’s Zimmer“, und wenn ich ein altdeutscher Maler wäre, dann würd’ ich seine Gestalt im Hintergrunde zeichnen, etwa neben jener der liebenswürdigen Wirthin.

Das Leben der Eingebornen, das echte Bauernleben ist im Winter ein ungeheuer abgeschlossenes, zurückgezogenes. Die Arbeit der Frauen liegt im Hause und die Männer begeben sich zu dieser Zeit in die tiefste Wildniß der Berge, um das Holz aus Schlitten herauszuschaffen.

Ohne Zweifel ist der Schlitten das wichtigste Fuhrwerk von allen, im Gebirge. Nicht nur weil der Winter dort acht und der Sommer blos vier Monate dauert, sondern weil er selbst im Sommer nie ganz in Urlaub kommt. Von den steilen Wiesenhängen, wo die Mäher fast lebensgefährlich stehen, wird das Heu im Schlitten herabgebracht. Auch der Hirsch, der im sommerlichen Hochwald erlegt wird, kommt also’ zu Thale, und die breiten niedrigen Schlitten, die quer mit Tannenästen bedeckt werden, heißen geradezu Hirschschlitten, Im Winter, wo die ungeheuren Schneemassen die Unebenheiten des Terrains ausgleichen, werden die meisten Theile des Berges dem Transport erst zugänglich. Tausende von Klaftern, die nicht das Wasser unentgeltlich spedirt, führt der Schlitten ihrer Bestimmung entgegen. Bei kleineren Lasten und auf steileren Wegen ist keine Bespannung möglich. Kutscher und Pferd besteht in derselben Person, und zum Einhalten hat man die sogenannten „Sperrtatzen“, die sich wie eiserne Krallen in den Boden wühlen. Trotzdem kommt durch Ueberstürzen manches Unglück vor, und Mancher ward geschleift oder zerschnitten von den eisernen Beschlägen.

Zum Personentransport sind vor Allem die kleinen sogenannten „Beinschlitten“ üblich, bei welchen statt der Eisenbeschläge glatte Knochen aufgesetzt werden. Sie haben ein Sitzbrett in der Höhe von drei Fuß, aber ohne Lehne und werden geritten, indem zwei eisengespitzte Stäbe zugleich die Richtung und die Bewegung geben. Auf diesen „Boanlschlitten“ hält die „reifere Jugend“ bisweilen Wettrennen ab, wobei es nicht nur Gewinnste, sondern auch Verluste – von großen Zehen und kleinen Fingern und anderen nützlichen Dingen giebt. Denn der Boanlschlitten wirft gerade so gut ab, fällt ebenso schön in die Grube und geht gerade so leicht durch, wie das kostbarste englische Rennpferd. Auch die bausbackigen oberbairischen Jockeys sind auf ihre Virtuosität genau so stolz, wie der athemlose ausgehungerte Lenker des Gladiateur.

Dieser Corso der Boanlschlitten ist eine Hauptunterhaltung an jenen einsamen Winterstätten, wo die Rubrik „Vergnügen“ noch nicht besteht, wo es keine „öffentlichen Lustbarkeiten“ giebt und manche Ortschaften wenigstens in Bezug auf das Amüsement ganz der Selbstverwaltung überlassen sind.

Bei Weitem malerischer, und vielleicht darum seltener, sind indeß die niedrigen Schlitten, die aber nur an manchen oberbairischen Seen gebraucht werden und die der Fahrende aufrecht leitet statt rittlings zu sitzen. Sie sind meist von beschränkterem Umfang, höchstens für ein Paar gebaut, und wenn dies ein „zärtliches Paar“ ist, so wird es wohl sehr mit solcher Bauart einverstanden sein.

Auch das Schlittenrecht, welches bekanntlich in einer Naturalleistung (in einem Kuß) besteht, kommt im Gebirge fleißig zur Anwendung und dehnt sich ohne Zweifel auch auf diese niedrigste Form des Schlittens aus.

Ganz besonders ist dieselbe (die Form, nicht die Naturalleistung) auf dem Staffelsee zu Hause und reicht selbst nach Osten bis auf den Chiemsee herüber. An den Seen, die tiefer in den Bergen liegen, beim Tegernsee, Königs- und Achensee, ist sie viel seltener.

Das ist nun freilich ein frisches pittoreskes Bild, wenn, wie dies unser Bild darstellt, die elastische Gestalt des verwegenen Burschen sich aufrichtet und über seinen Schützling beugt, wenn die scharfe Luft pfeift und der Mantel im Winde flattert, der blaue Mantel, den schon der Vater getragen hat! Das ist fast eine Luftfahrt und keine Eisfahrt mehr, so kühn ist hier die Stellung, so frei die Bewegung!

Manneslang sind die beiden Dirigentenstäbe, und Gott sei gnädig, wenn das Fuhrwerk aus dem Tact kommt! Lustige Zurufe tönen hier und dort, wo der Schlitten vorübersaust, und das Dirndl denkt sich wohl manchmal: „Mit Einem, der’s so kann, werd’ ich sicher gut fahren.“ Aber ducken muß man sich! –

Nur ausnahmsweise frieren die oberbaierischen Seen schon um Dreikönig zu, wie Heuer, das Entstehen des Eises ist aber stets ein gewaltiger Vorgang, ein revolutionäres Ereigniß, ein Staatsstreich in der Natur. Die Decke bildet sich bei Nacht, und wer drinnen in seinem Bette liegt, der hört ein Ringen und Stöhnen, ein Toben und Heulen, als ob draußen einer gefesselt würde. Am Morgen liegt dann der helle feste Spiegel vor unseren Blicken. Die Gegend bekommt dadurch so etwas Zusammengewachsenes, ein so strammes Gepräge, als ob die Berge förmlich hineingefroren wären in den See.

Ehe man das Eis zu betreten wagt, wird eine Gasse in demselben ausgehauen, in der die Schiffe von einem Ufer zum andern fortgeschoben werden. Dann wandert der erste Leichtfuß über die schwankende Decke, aber manches Opfer liegt zwischen ihm und den vierspännigen Wagen, die zuletzt den mauerdicken Weg betreten. Von den Martertafeln, deren tragikomische Inschriften die Verunglückten besingen, gelten sechszig Procent denjenigen, die im Eise zu Grunde gingen. Auf einer derselben steht folgender Nekrolog:

„Ich, Johann Koch bin im Schlitten gekommen,
Hat das Eiß mich mitgenommen,
Mein sterblicher Leib ist erfroren im Eiß,
Meine Seell verbrennt im Fegfeuer heiß.
Hl. Maria, Bitt für uns!“

Nach seiner Gesammtanlage paßt auch der echte eigentliche Gebirgsländer nicht auf’s Eis. Im Geröll der Felsen, da klammern sich eiserne Muskeln fest, da giebt die massive elastische Gestalt ihm Sicherheit, aber für den glatten bodenlosen Boden des Eises paßt die Art seines Ganges nicht. Darum ist auch die Species Schlittschuhläufer im Hochgebirge wenig verbreitet, und nur die Honoratioren und das Zünglein der Cultur haben hier etwas nachgeholfen. Auch das Eisschießen ist mehr ein Vergnügen der Honoratioren und des Bürgerstandes, als der eigentlichen Bauern. Die Gehöfte derselben liegen meist weit ab vom See, und dann hat der Bauer einen Zug von aristokratischer Abgeschlossenheit. „Mein Haus ist meine Burg“ heißt es auch hier, und er kommt nur herunter zum Herrgott oder zum Bier. Andere Formen des geselligen Bedürfnisses als die Kirche und das Wirthshaus sind noch ziemlich unentwickelt – und andere Formen des Vergnügens als das dolce far niente noch ziemlich unbeliebt. Der Gegensatz zwischen der strengen Arbeit und dem strengsten Nichtsthun ist noch nicht wie bei den Städtern durch die wuchernde Fülle der Passionen, der Liebhabereien, des Dilettantismus ausgefüllt. Die einzige Jagd macht eine Ausnahme; im Uebrigen kann der Bauer nichts als arbeiten und faulenzen, aber Beides auch recht. Diese Entwickelung, diese Extreme von Knechtschaft und Souveränität sind das nothwendige Resultat seiner jahrhundertlangen Leidensgeschichte.

Am Sonntag ist der Bauer ein Herr. Da rüsten sich die Schlitten zur Kirchfahrt und es mag ihm die Andacht wohl leichter werden, wenn er auch sein Mädel aufsitzen läßt. Das Wort: „Ihr sollt den Herren suchen“ ist auf dem Lande von jeher so verstanden worden, daß die Bewohner des linken Ufers auf das rechte in die Kirche gehen und umgekehrt, und so fliegen denn die Schlitten von allen Himmelsrichtungen aneinander vorüber. Da heißt es sicher regieren mit der kühnen Stange, denn wenn zwei solcher Weltkörper aus der Bahn gerathen und zusammenstoßen, dann giebt es blutige Meteore.

Ganz besonders gefährlich sind die kleinen offenen Stellen, da wo sich am Seegrund Quellen finden, die man „Kelchbrunnen“ heißt und die durch die Bewegung das Gefrieren hindern. Wehe Jedem, dem die Sonne oder der tiefe Nebel dies blendende Grab verdeckt, er stürzt mit Sturmeseile in einen unermeßlichen Abgrund. So sind die Kirchenglocken Manchem zum Grabgeläut geworden.

Die meisten Unglücksfälle ereignen sich indessen auf dem Chiemsee, wo auch der Brauch der Kirchfahrt am stärksten in Uebung steht. Grauenvoller noch sind die Tiefen des Königssees

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_172.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)