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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Ein Besuch im Kloster.[1]

Von Carl Vogt

„Sie haben wohl manche harte Tage in Ihrem Leben durchgemacht?“ sagte ein Genesender am Rheine zu seinem Pfleger, welcher dem Alexianer-Orden angehörte, der bekanntlich die besten Krankenwärter liefert, die überhaupt zu finden sind. „Ihr Beruf ist wahrlich kein leichter und die Aufopferung, die der Orden im Ganzen in den letzten Kriegen, in Schleswig-Holstein, in Böhmen und am Maine bethätigt hat, kann nicht hoch genug belobt werden. Bitte, erzählen Sie mir ein wenig aus Ihren Erlebnissen.“

„Was könnte ich Ihnen erzählen?“ antwortete der Alexianer. „Unsere Pflicht gebietet uns, den Leidenden beizustehen, die Verwundeten und Kranken zu pflegen – wir erlernen diesen Beruf, wie einen anderen, in unseren Stiftshäusern, wo wir besonders Idioten, Geisteskranke und unheilbare Kranke aufnehmen, und wenn wir ihn erlernt haben, suchen wir uns der Menschheit nützlich zu machen, so viel es in unseren schwachen Kräften steht. Davon ist weiter kein Aufhebens zu machen.“

„Aber Sie selbst, haben Sie nicht unendlich viel zu leiden gehabt in diesen Kriegen, wo Ihnen oft Alles fehlte, nur nicht der Muth und die Hoffnung auf Besserung?“

„Manche unserer Brüder sind unterlegen,“ antwortete der Alexianer, „und ich selber habe oft nicht geglaubt, die Mühen, Strapazen und entsetzlichen Eindrücke, die auf mich einstürmten, überwinden zu können. Aber was ich auch Schlimmes dort erduldet – es wird aufgewogen durch das, was mir während meines Noviziats auferlegt wurde. Ich mußte während achtzehn Monaten zwei Affen verpflegen.“

„Zwei Affen?“ fuhr der Kranke auf. „Wie in aller Welt kann man auf den Gedanken verfallen, Menschen dadurch zur Krankenpflege vorzubereiten, daß man sie in eine Menagerie steckt?“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erläuterte der Alexianer. „Es waren Kinder wohlgebildeter Eltern, Menschen der Geburt nach, aber Affen in ihrem Thun und Treiben, in ihrem ganzen Wesen – zwei Brüder – der ältere boshaft, tückisch, verschlagen und listig, der jüngere gutmüthig, sanft, aber jähzornig, wenn er geneckt wurde - Beide unfähig zu sprechen, unzugänglich jeglicher Erziehung und Dressur – körperlich Menschen bis auf den Kopf, geistig Affen in jeder Beziehung! Dieser Geschöpfe Pflege war mir im Stifte speciell übertragen, und das war eine härtere Probe, als das Wirken unter leidenden, aber doch denkenden Menschen.“

Während des Kriegsjahres 1866 hatte ich mich mit eingehenden Studien über die sogenannten Affenmenschen oder Mikrocephalen (Kleinköpfe) beschäftigt, deren Resultate ich im zweiten Bande des „Archivs für Anthropologie“ niedergelegt habe. Meine Wandervorlesungen benutzte ich zugleich zu Nachforschungen über noch lebende Wesen dieser Art. War es ein Wunder, daß ich aufhorchte, als mir dieses Gespräch erzählt wurde?

„Ich glaube,“ sagte ein anwesender Arzt aus der Gegend, „daß ich diese beiden Wesen einmal in dem Alexianerstifte gesehen habe. Wollen Sie mir sagen, worauf ich zu achten habe, damit ich Sie nicht auf eine falsche Spur führe? Ich werde mich dann in das Stift begeben, nachforschen und wenn die beiden Wesen wirklich in die Kategorie gehören, die Sie suchen, so benachrichtige ich Sie und führe Sie dort ein, damit Sie selbst untersuchen können.“

„,Der Himmel vergelte Ihnen Ihre Wohlthat im Ehestand auch ohne Vermehrung des Kindersegens,‘ pflegte mein Vater zu sagen, lieber Doctor. Was kann ich Ihnen sagen? Diese Wesen werden mit absolut zu kleinem Schädel und Gehirn geboren. Die Stirn ist höchstens zwei Finger breit und schief nach hinten abgeflacht; der Schädel hat wenig mehr, als die Größe einer Mannesfaust; die Augenbrauenbogen springen vor, noch mehr die von dicken Lippen bekleideten Kiefer, welche meist mit prächtigen großen Zähnen bewaffnet sind. Der Schädel ist so klein, so flach gewölbt, daß die Ohrmuscheln fast so hoch stehen, als der Scheitel. Der Ausdruck der Augen und des ganzen Gesichtes ist bald gutmüthig, bald boshaft, stets aber mehr demjenigen eines Thieres, als dem eines Menschen ähnlich. Sie sprechen nicht, sondern stoßen nur unarticulirte Laute und Gurgeltöne aus. Sie stehen und gehen mit vorhängendem Kopfe, gekrümmtem Rücken, einwärts gebogenen Armen und Beinen. Verwechseln Sie diese ,Idioten’ nicht mit Cretinen. Bei diesen letzteren haben Sie Stumpfheit, Muskelschwäche, langsame, plumpe Bewegungen, eingekniffene Nasenwurzel – bei den Affenmenschen lebhafte, blitzschnelle Bewegungen, ausdrucksvolle Mimik, Nachahmung der Bewegungen, Stellungen und Mienen Anderer, unruhiges Umherfahren der Aufmerksamkeit, schnelle Uebergänge von Fröhlichkeit zu Trauer und dabei ein entwickeltes Gesicht, welches an dasjenige der Azteken erinnert, die man vor wenigen Jahren zur Schau stellte und die nichts Anderes waren, als solche hirn- und schädelarme Mißgeburten, freilich aus anderer Race entsprungen.“

„Genug,“ antwortete der Doctor. „Damit kann ein Laie sich auf die Suche begeben. Wenn etwas vorhanden ist, soll mir’s nicht entgehen.“

Einige Tage darauf gab mir der Doctor Rendezvous am Bahnhofe.

„Ich habe gefunden!“ rief er mir entgegen. „Der ältere Bruder ist unterdessen gestorben, der jüngere lebt, und Sie sollen ihn sehen.“

Wir begaben uns auf den Weg.

„Haben Sie schon andere lebende Wesen dieser Art gesehen?“ fragte mich der Doctor, während wir durch aufgeweichten Schnee und Straßenkoth stapften.

„Freilich wohl,“ entgegnete ich, „ein jetzt siebenzehnjähriges Mädchen, Sophie Wyß, das sich gegenwärtig im Asyl von Hindelbank bei Bern befindet. Ich habe meinen Besuch dort im ,Archiv für Anthropologie’ beschrieben. Das Mädchen wurde in der Nähe von Ollon im Canton Waadt geboren, mußte aber auf Befehl der Regierung in die Anstalt gebracht werden. Es war der Schrecken der Hunde in seinem Orte, steht in geistiger Beziehung auf der Stufe eines wenig intelligenten Hausthieres, besitzt aber einen vorstechenden Nachahmungstrieb. Das täglich mehrmals wiederholte Gebet ahmt sie mit ausgezeichneter Mimik und vortrefflich im Tonfälle ihrer Gurgeltöne nach; jede Bewegung, jeder Gesichtsausdruck wird, wenn sie gut gelaunt ist, blitzschnell aufgefaßt und nachgeahmt; die articulirte Sprache fehlt durchaus; das einzige halb articulirte Wort, welches sie sich in der Anstalt angewöhnt hat, ist: Amen – aber auch dieses wird nicht vollständig ausgesprochen, es lautet fast: hamm – der vocal wird mit starker Aspiration hervorgestoßen und das m ist fast eine halb ausgeführte Niesbewegung. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den mir eine Scene machte, die ich auf dem Hofe der Anstalt sah. Wir hatten bei unseren Messungen Haar und Kleider etwas in Unordnung gebracht, und als wir mit Sophie und der Wärterin den Hof durchschritten, kam eine alte triefäugige Halb-Cretine, die, wie die Töchter des Phorkys, nur einen Zahn im Munde hatte, auf Sophie zu und begann an ihrem Haar und ihren Kleidern zu nesteln. ,Sophie mag sie nicht leiden,’ sagte die Wärterin, und in der That fuhr plötzlich das Mädchen herum, wie ein gereizter Affe, krallte die Finger, bleckte die Zähne und pfauchte, daß man sich an den Käfig eines Panthers versetzt glauben konnte. Die Halb-Cretine fuhr zurück, sperrte den weiten Mund mit dem einzigen Hauzahne auf, pfauchte und spie ebenfalls – Callot hätte ohne Zweifel den Gegenstand eines unsterblichen Blattes gefunden, wenn er dieser Scene beigewohnt hätte. Aber in dem Augenblicke, wo es den Anschein

  1. Die Vorlesungen, welche Carl Vogt seit dem vorigen Jahre in Frankfurt a. M., Offenbach und Saarbrücken, in Mainz, Bremen, Mannheim, Darmstadt, Nürnberg und Fürth und im Laufe des gegenwärtigen Winters in Köln, Aachen, Crefeld, Elberfeld und Essen, in Dresden, Leipzig, Hamburg, Braunschweig und Berlin gehalten, haben überall ein so außerordentliches Aufsehen erregt, daß wir sicher auf das Interesse aller unserer Leser zählen dürfen, wenn wir im obenstehenden, vom Verfasser eigens für die Gartenlaube ausgearbeiteten Artikel den denkwürdigsten Theil der Schlußvorlesung, in welcher der Inhalt des ganzen Cyklus gipfelt, in mehrfach erweiterter Form mittheilen. Bei diesem Anlaß bemerken wir noch auf die und von vielen Seiten gewordenen Anfragen, daß Carl Vogt stets mit Anträgen zu neuen Vorlesungen überhäuft ist, so daß nur diejenigen Städte, die sich im Laufe des kommenden Septembers schriftlich direct an ihn nach Genf wenden, darauf rechnen können, eine Reihe seiner Vorlesungen zu hören.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_203.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)