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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

jährlich seiner eigenen Freiheit und Majestät darbringt. Man hat vielfach das Wesen und den Kern der Landsgemeinde mit ihren Formen und den äußeren, sie begleitenden Umständen verwechselt. Unseres Erachtens sind aber diese theilweise veralteten und selbst fortschrittfeindlichen Formen und Umstände zu reformiren, ohne die Grundlage des Institutes anzutasten, und diese Grundlage besteht in praktischer Verwirklichung des Grundsatzes, daß das Volk in seinem Lande Herr und Meister ist und sich seine Gesetze und Behörden selbst giebt. In mehren größeren Cantonen der Schweiz hat man bereits mehr oder weniger weit gehende Versuche gemacht, den Grundsatz der Selbstregierung mit modernen Formen zu verbinden; ganz in alter Weise aber hausen noch einige der kleineren Alpencantone, so: Uri, Glarus, die beiden Theile von Unterwalden: Ob- und Nidwalden, und die beiden Theile von Appenzell: Inner- und Außerroden.

Das Ländchen Appenzell, aus herrlichen grünen Matten, lieblichen Hügeln und imposanten Bergen bis zum ewigen Schnee des Säntis hinauf bestehend, bildet eine Stufenfolge der abwechselndsten, von jenem Höhepunkt nach und nach immer tiefer bis in die Nähe des Rheins und Bodensees sich niedersenkenden Landschaften. Es ist ein von Natur zusammengehöriges Ganzes, das sich nach allen Seiten durch Bergabhänge ziemlich scharf von den es umgebenden Gegenden sondert. Im Mittelalter größtentheils dem nahen Kloster St. Gallen verschrieben, befreite sich Appenzell im Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts durch die unsterblichen Freiheitsschlachten bei Vögelinseck und am Stoß gegen den Abt und dessen Verbündete und setzte sogar die ganze Nachbarschaft bis tief nach Tirol hinein durch Raubzüge in Schrecken, bis die Macht der Ritter und die bevormundende Bundesgenossenschaft der schweizerischen Cantone dem aufbrausenden Geiste der Zügellosigkeit Schranken anlegten.

Die Reformation führte im folgenden Jahrhundert den größeren Theil des Ländchens dem neuen Glauben zu, und ohne allen Zwist und Hader lebten volle fünf Jahrzehnte die Anhänger beider Confessionen zufrieden neben einander, bis die Ränke des römischen Nuntius den Glaubensfanatismus unter den appenzellischen Katholiken gegen ihre reformirten Brüder so anzuschüren wußten, daß eine ernste Krise hereinbrach und nur durch die 1897 erfolgte Trennung des Cantons in die katholischen inneren und die protestantischen äußeren Roden (Abtheilungen, Gemeinden, Rotten) zu beseitigen war. Seither bestehen auf diesem kleinen Fleck Erde, rings von dem größeren (seit 1803 gebildeten) Canton St. Gallen umgeben, zwei souveraine Kleinstaaten, jeder mit tirolischer „Glaubenseinheit“ und beide mit unter sich ähnlicher Verfassung. Das Gebiet dieser beiden Stäätchen ist auf die wunderlichste Weise untereinander vermengt und verquickt, so daß Inner- und Außerroder, wenn sie in ihre beiderseitigen Landsgemeinden ziehen, sehr oft ihre Straßen gegenseitig durchkreuzen und einander „Guten Morgen“ bieten können. Innerroden treibt nämlich einen mächtigen Keil zwischen die beiden Theile von Außerroden „vor und hinter der Sitter“, und ein District im Nordosten des Cantons, der, wie es scheint, bei der Theilung vergessen wurde, ist noch so desorganisirt, daß die dort wohnenden Katholiken Inner- und die Protestanten Außerroder sind, obschon ihr Gebiet gar nicht ausgeschieden ist. Seitdem indessen die neue Bundesverfassung allgemeine Niederlassungs- und Glaubensfreiheit und allgemeines Stimmrecht der Schweizer eingeführt hat, verliert die Trennung immer mehr ihren Sinn, indem auch in Außerroden Katholiken und in Innerroden Protestanten sich ansiedeln und ihr Stimmrecht ausüben dürfen.

Am letzten Sonntage im April jeden Jahres versammeln sich in jedem der beiden Halbcantone die sämmtlichen stimmberechtigten Bürger (oder wie man in den kleinen Cantonen, wo es keine Städte giebt, officiell sagt: „Landleute“) auf einem bestimmten Platze zur Landsgemeinde, in Außerroden abwechselnd zu Trogen und zu Hundwil, in Innerroden immer zu Appenzell, dem ursprünglichen Hauptorte des ganzen Cantons. Jede der beiden Landsgemeinden hat ihre Eigenthümlichkeiten. In Außerroden ist sie weit zahlreicher, da dieser Halbcanton die mehr als vierfache Bevölkerung des andern hat, und bietet das Bild eines wohlhabenderen, gebildeteren Volkes dar. In Innerroden ist sie origineller, alterthümlicher und durch die eigenthümliche Tracht der zuschauenden Frauenwelt anziehender. Außerdem aber bringt die Zeit oft Verhandlungsgegenstände mit sich, die in dem einen oder andern Halbcanton mehr Interesse darbieten.

Das in größerem Maße dem Fortschritt huldigende Außerroden hat bereits vor zehn Jahren seine Verfassung zeitgemäß reformirt und seine Landsgemeinde ist blos noch das alte Kleid eines neuen Körpers. In Innerroden dagegen ist bisher jeder Antrag auf Verbesserung beharrlich abgewiesen worden, und der Wahlspruch des dortigen, größtentheils aus Sennen bestehenden Volkes war stets: „Nüts Neu’s!“ (nichts Neues!) Nachdem nun aber selbst die stabilsten Cantone, Uri und Unterwalden, dem Zeitgeist Concessionen gemacht haben, kann Appenzell-Innerroden kaum mehr zurückbleiben. Die jüngere Generation, dem Fortschritte zugeneigt, hat deshalb alle Triebfedern in Bewegung gesetzt, ihrem Ländchen nicht mehr den letzten Platz in der Stufe schweizerischer Civilisation angewiesen zu sehen, und heute, den 26. April 1868, ist der Tag, an dem sich diese Frage auf dem großen Platze im Dorfe Appenzell entscheiden soll. Unsere Wahl fällt deshalb nicht schwer, indem in Trogen heute Geschäfte von untergeordneter Bedeutung abgesponnen werden. Frisch auf daher, nach Appenzell, wenn auch der Himmel umwölkt ist und die Sonne umsonst kämpft, ihren rechtmäßigen Platz am blauen Gewölbe zu behaupten. Die Luft ist indessen warm und angenehm, der Boden trocken und schneefrei; nur die Spitzen der Berge und höheren Hügel sind noch weiß bedeckt. Herrlich grünen die Wiesen, besäet mit den goldgelben Frühlingsblumen. Unser Weg führt am hohen Ufer der Sitter, sie mehrmals überschreitend auf altersgrauen bedeckten Brücken, zuerst in der romantisch-schauerlichen Schlucht von Zweibrücken, zu welcher wir auf der steilen, halsbrechenden Hundwilerleiter hinabsteigen, und dann, jenseits des weithin sichtbaren Dorfes Stein, bei der malerischen Capelle von Lank vorüber.

Die Gegend bietet die anziehendsten Scenen, bald Fels-, bald Waldpartien, und dazwischen zerstreute Weiler und Höfe mit braunen Häusern, auf deren Gesimsen Bienenstöcke prangen. Von Zeit zu Zeit begegnen uns Männer, alte und junge, im Sonntagskleide, den Cylinderhut auf dem Kopfe und einen Degen, Säbel oder Hirschfänger, – nicht etwa angeschnallt, sondern an Griff oder Scheide in den Händen tragend oder auch mit dem Regenschirm zusammengebunden; es ist dies das Symbol des freien Mannes, das seit Menschengedenken in die Landsgemeinden mitgenommen wird; doch hält man sich nicht mehr streng daran, und man sieht viele Stimmberechtigte, namentlich wenn sie nicht geborene Appenzeller sind, ohne Waffen erscheinen. Der Tag der Landsgemeinde gilt allgemein als ein Ehrentag des Volkes, und selbst die ältesten Männer lassen es sich nicht nehmen, den oft viele Stunden betragenden Weg zurückzulegen.

Endlich erreichen wir das Gebiet von Innerroden. Wir erkennen es an zweierlei Dingen: erstens an den häufigen Capellen und Bildstöcken, und zweitens leider an dem – Bettel! Vor einem Jahrzehnt war dieser Uebelstand indessen noch ärger. Man konnte in Innerroden absolut keinem Kinde begegnen, ohne um den „Landsgmändchrom“ (Landsgemeindekram) angegangen zu werden. Jetzt huldigt nur noch ein Theil dieser verwerflichen Unart, und zwar darunter ganz wohl gekleidete Kinder, denen man keinen Mangel ansieht, ja deren frische und fröhliche Gesichter eher das Gegentheil anzuzeigen scheinen. Die besser erzogenen aber halten sich ruhig vor ihren Häusern und verrathen damit, daß sie von vernünftigen, anständigen Eltern stammen. Auf der letzten Sitterbrücke vor dem Dorfe Appenzell, das in einem Thalkessel zwischen den emporragenden Bergeshäuptern liegt, beginnt bereits der Landsgemeindemarkt. Confect und Ellenwaaren werden auf demselben feilgeboten.

Bald sind wir nun im Dorf und Laudeshauptort. Sein Inneres ist städtisch gebaut, mit aneinanderstoßenden Häusern, gepflasterten Straßen und Petroleumbeleuchtung. Auf dem größten Platze, den früher eine uralte Linde, die Zeugin der Ereignisse von Jahrhunderten, schmückte, wird die Landsgemeinde gehalten. Wie zu den Zeiten der Väter steht hier die Bühne da, bekleidet mit den Landesfarben schwarz und weiß, an ihren beiden Enden die „Schwerter der Gewalt“ aufgepflanzt, ihr gegenüber eine einfache Erhöhung für die „Hauptleute“ (Vorsteher, Schulzen) der einzelnen Roden und seitwärts eine solche für die Rathsmitglieder, die man, nicht sehr demokratisch, „Rathsherren“ nennt.

Noch ist die Stunde der Eröffnung des Volksthings nicht gekommen, und wir durchbummeln daher den Flecken noch ein wenig. Die Straßen sind sehr belebt. Ueberall Verkaufslocale; Leckerbissen aller Art, Kinderspielzeug, Kleidungsstücke werden feil geboten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_394.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)