Seite:Die Gartenlaube (1868) 407.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Am folgenden Tage fühlte ich mich schon ein wenig kräftiger und schrieb nun ein Gesuch an den Kaiser, in welchem ich meine jetzige und frühere Lage, meine Untersuchungshaft, meine Freisprechung durch das Kriegsgericht und meine schließliche Verurtheilung durch den Generalgouverneur Murawieff darlegte. Ich bat Seine kaiserliche Majestät nicht um Gnade, sondern um Gerechtigkeit und um Revision meines Processes. Dieses Gesuch übergab ich dem preußischen Consul, welcher mich besuchte; auch er versprach, dafür zu sorgen, daß ich die Entscheidung meines Schicksals durch den Kaiser in Moskau abwarten dürfe. Ein mir verwandter preußischer General, der schon vielseitig in meinem Interesse gewirkt und mir dadurch manche Erleichterung verschafft, hatte sich ebenfalls beeilt, sich für mich bei dem Gouverneur von Moskau, dem Fürsten Obolinski, zu verwenden, letzterer besuchte mich denn auch und gab mir eine schriftliche Bescheinigung, daß ich vor Eintreffen der kaiserlichen Entscheidung nicht weiter transportirt werden solle. So durfte ich mich denn wohl der Hoffnung hingeben, einem schweren und unverdienten Geschicke noch in der elften Stunde zu entgehen. In der Etappe Moskau wird den Verbannten stets eine achttägige Rast gewährt. Während dieser Zeit durfte ich mich wieder am ungestörten Umgange mit dem Fürsten M. erfreuen, der beinahe drei Jahre eine Zelle und alle beiden des Gefängnißlebens mit mir getheilt. Unsere Verurtheilung erfolgte auch gleichzeitig und gleichlautend. Wir waren Beide nach dem Gouvernement Irkutsk verbannt und so war im Laufe der Zeit ein inniges freundschaftliches Verhältniß zwischen uns entstanden. Der Fürst war überglücklich, jetzt meine Erlösung für gewiß halten zu dürfen. Wir Beide vergaßen dabei, daß wir nach Ablauf der achttägigen Rast getrennt würden, um das wahrscheinlich für dieses ganze Leben zu bleiben.

Nur zu schnell kam der Tag der Trennung heran. Der Fürst lag weinend an meiner Brust. Er war jedoch stärker als ich. Denn während ich keines Wortes mächtig war, sprach er zum letzten Abschiede: „Wenn Du zurückgekehrt bist in Dein schönes Deutschland, in Dein geliebtes Preußen, o so vergiß des armen Freundes nicht! Sei glücklich, glücklich, glücklich!“ Der Zug setzte sich in Bewegung; ich konnte ihm nur ein halbersticktes Lebewohl nachrufen; meine Augen waren durch Thränen verdunkelt, er entschwand meinen Blicken für immer. Genug davon! Ich will die Leser nicht mit der Schilderung meiner Empfindungen behelligen.

In Moskau langten während meines dortigen Aufenthaltes wöchentlich Hunderte von Verbannten an, die ebenfalls immer nach achttägiger Rast weiterbefördert wurden. Es waren dies zum größten Theile Polen, welche nach der inzwischen niedergeworfenen Insurrection ihr Vaterland in Sibirien vergessen sollten, Männer und Frauen jedes Alters und Standes und vielfach begleitet von Verwandten, letztere zumeist weiblichen Geschlechts. Ich habe schon gesagt, daß uns hier in Moskau, in der Villa eines unglücklichen Kaufmanns, die größte Freiheit gestattet wurde und daß uns auch der dazu gehörige Park geöffnet war. Natürlich fehlte es nicht an militärischer Bewachung. Da mir von dem Generalarzt Bewegung in freier Luft empfohlen war, so besuchte ich den Park täglich und hatte hier abermals Gelegenheit, die Leichtlebigkeit der Polen zu bewundern. Das Loos der nach Sibirien Verbannten ist unter allen Umständen furchtbarer als es das der Aristokraten in der französischen Revolutionszeit war, die von kurzen Gefängnißleiden durch die Guillotine erlöst wurden. Aber wie diese Franzosen lächelnd das Blutgerüst betraten, so sah man hier nur an dem Sträflingsanzuge, nicht an den Mienen der Gefangenen, um was es sich handelte. Man erblickte in dem Park die elegantesten Toiletten von Damen, die ihren Sträflingsrock gleichsam wie einen Schmuck oder wie eine harmlose Verkleidung über die kostbarsten Stoffe, über die feinste Wäsche gezogen hatten. Hier führte ein Herr, mit der Kette an den Füßen, eine Dame im elegantesten Gesellschaftsanzuge unter dem schmutzig-gelben Rocke zu einer Verkaufsstelle von edlen Südfrüchten und feinen Delicatessen; dort tummelten sich Kinder des verschiedensten Alters, welche von der Krone ebenfalls mit der verhängnißvollen Kleidung versehen waren, unter den Bäumen im Grase. Das Ganze trug allerdings den Charakter der Ostentation: – „Seht, Leute, uns schickt die russische Regierung nach Sibirien!“

Unter den im Park Lustwandelnden waren auch eine bildschöne Comtesse und ein junger Edelmann, die sich im Gefängniß zu Kowno kennen gelernt und durch ein gar merkwürdiges Liebesalphabet verliebt, verlobt und geheirathet hatten. Die Gefangenen der beiden Flügel des Gefängnisses in Kowno nämlich unterhielten und verständigten sich durch eine ganz originelle Telegraphie, die so wenig Apparate brauchte, daß die berühmten Telegraphisten Siemens und Halske in Berlin dieselbe gewiß gern patentiren würden. Die vierundzwanzig eisernen Gittervierecke unserer Kerkerfenster stellten ebenso viele Buchstaben dar. Der Telegraphist stellte sich nun an das Gitter, fingerte wie der Blitz von einem Gitterviereck zum andern und schuf so Worte und Sätze. So oft ein Wort zu Ende, wurde dieses durch einen Doppelschlag mit dem Finger angedeutet. Auf diese Weise wurden Anekdoten, Schnurren erzählt, Räthsel aufgegeben, Erzählungen übermittelt, ja es wurde sogar eine Geschichte aus der Gartenlaube von hüben nach drüben telegraphirt. Vor allen Dingen aber diente diese Telegraphie als Sicherheitsmaßregel. Sie kündigte einen untersuchenden Beamten an, warnte vor Mittheilung geheimer Artikel aus dem Gefängniß- Kladderadatsch und schloß fast immer mit der Weisung, den Spürhunden eine tüchtige Nase zu drehen und gegenseitig Freundschaft zu halten. Studien in dieser Telegraphie wurden so sorgfältig gemacht, wie die Langfingerübungen eines Londoner Taschendiebclubs. Wie dieses Gitteralphabet zum Liebestelegraphen für das genannte Paar wurde, dürfte am wissenswerthesten sein. Die bildschöne Comtesse und der junge, geistreiche Edelmann, welche sich Beide früher nie gesehen, verliebten und verlobten sich, wie gesagt, auf diesem gewiß ungewöhnlichen Wege. Sie schrieben oder fingerten vielmehr einander so glühende, zärtliche billets-doux, daß Abälard und Heloise das glückliche Verhältniß gewiß beneidet hätten. Nach der Verlobung am Gitter wurde die Trauung vor der ganzen Gefangenschaft öffentlich gefeiert, was um so rührender ist, als die junge Comtesse bereits ihre Freiheit erlangt hatte und ihr Bräutigam zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt worden war. Sie entschloß sich aber dennoch, mit dem Manne in die Verbannung zu wandern, welchem sie ihr Herz geschenkt.

Im Park waren eine Menge Buden aufgeschlagen, aus denen man sich mit allen möglichen Lebensmitteln und Lebensbedürfnissen Genußmitteln, Luxusartikeln etc. reichlich versehen konnte. Hier wurde viel Geld verschwendet. Sogar ein Photograph hatte im Park sein Zelt aufgeschlagen, und es war den Gefangenen gestattet, sich einzeln oder auch in Gruppen photographiren zu lassen. Der Photograph war von früh bis spät beschäftigt und machte die glänzendsten Geschäfte. Alles lebte, die bevorstehenden Entbehrungen im Auge, im Genusse der immerhin noch heiteren Gegenwart, ohne der Vergangenheit und der späteren Zukunft zu gedenken. Es ist das eben polnisch.

Leider sollte meine Hoffnung auf baldige Befreiung getäuscht werden. Alle Versprechungen meiner Freunde waren redlich erfüllt worden, aber der Kaiser wie ich später erfuhr – war plötzlich nach Nizza gereist, wo sein ältester Sohn schwer erkrankt daniederlag und starb, und hatte keine Bestimmung für mich zurückgelassen. Nach drei Monaten also erklärte mir der Gouverneur von Moskau, daß er mein längeres Verbleiben nicht mehr verantworten könne und daß ich, da ich nun vollständig genesen, mit dem nächsten Transporte befördert werden müsse. Er drückte mir sein tiefstes Bedauern darüber aus. Die Interventionen des Generalarztes Dr. H., sowie die des Consuls blieben fruchtlos; die strengen Instructionen, welche der Gouverneur neuerdings hinsichtlich der nach Sibirien verbannten politischen Gefangenen erhalten, durften allein maßgebend sein.

So trat ich denn am 14. Juni 1865 in Gesellschaft von zweihundert und achtundfünfzig Unglücklichen die Weiterreise nach Sibirien an. Wie es die „Gartenlaube“ war, die mich von dem Tode rettete, zu welchem ich verurtheilt, und wie ich durch die Verwendung der preußischen Regierung, speciell des Grafen Bismarck, nach einigen Jahren der Verbannung der Freiheit in der Heimath wieder gegeben wurde, davon denke ich dem Leser in einem späteren Artikel zu erzählen.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_407.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)