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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


durch meine Darstellung des Stoffes unausbleiblich angeregt wird, springt ja dann wie von selbst aus dem Contrast des Unglücks und des gehofften Glücks hervor. Das Kind, das morgen den blumenreichen Anger, Thal und Höhen zu durchschweifen hofft; die Mutter, welche sich in Gedanken schon im Festkleide in heiterer Gesellschaft, beim frohen Male sitzen sieht; die Großmutter, die dann noch das Mahl zu kochen, das Kleid zu spinnen gedenkt: sie werden morgen Alle neben der lebensmüden Urahne aus der Todtenbahre ausgestreckt liegen!“

Ganz erfüllt von diesem Gedanken, trat der Dichter den Rückweg an und begann im Wandern schon den Stoff einzutheilen, zu formen und zu gestalten.

Als er in’s Haus trat, rief ihm der Pfarrer entgegen: „Willkommen! Ihr Aussehen kündet Gutes; die Muse scheint Ihnen ein Schäferstündchen geschenkt zu haben.“

„Ich glaube, der Spaziergang war nicht unfruchtbar,“ versetzte der Dichter.

„O, so lassen Sie uns hören, Herr Professor!“ bat ungeduldig das Mädchen, „bitte, sagen Sie uns das Gedicht her!“

„Es thut mir leid, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können,“ erwiderte der Dichter; „die Hauptsache ist, glaube ich, abgethan, aber von den Versen ist noch kein einziger fertig. Doch morgen werde ich, so Gott will, das Gedicht zum Frühstück auftischen.“

Dem Mädchen kam es bedenklich vor, daß noch kein Vers fertig war und doch schon das Hauptgeschäft abgemacht sein sollte.

Aber der Dichter hielt Wort. In der ersten Morgenfrühe aufgestanden, schrieb er, im Garten auf- und abwandelnd, das Gedicht in sein Schreibtäfelchen nieder, und als man sich später in der Laube zum Morgenkaffee niedergelassen hatte, las er:

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt

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Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl –

Wie wehen die Lüfte so schwül!

Das Kind spricht: „Morgen ist’s Feiertag;
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Thal und Höh’n,

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Wie will ich pflücken viel Blumen schön;

Dem Anger, dem bin ich so hold!“ –
Hört Ihr’s, wie der Donner grollt?

Die Mutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag;
Da halten wir Alle fröhlich Gelag,

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Ich selber ich rüste mein Feierkleid;

Das Leben hat auch Lust nach Leid,
Dann scheint die Sonne wie Gold!“ –
Hört Ihr’s, Wie der Donner grollt?

Großmutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag’,

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Großmutter hat keinen Feiertag,

Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
Das Leben ist Sorg’ und viel Arbeit;
Wohl dem, der that, was er sollt’!“ –
Hört Ihr’s, wie der Donner grollt?

25
Urahne spricht: „Morgen ist’s Feiertag,

Am liebsten morgen ich sterben mag!
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
Was thu’ ich noch auf der Welt?“ –

30
Seht Ihr, wie der Blitz dort fällt? .


Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammt die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind;

35
Vier Leben endet Ein Schlag –

Und morgen ist’s Feiertag.

Kein Bravo erklang, als er geendet; aber die tiefe Bewegung in den Zügen des Pfarrers und ein paar Thränen im Auge der Tochter spendeten ihm den beredtesten Beifall. „Das ist vortrefflich!“ sagte endlich der Pfarrer, „Sie haben den Stoff in der That ganz und gar durchgeistet und ihn von aller Erdschwere befreit. Und wie schlicht und einfach ist die Form und doch wie so vollkommen dem Gehalt entsprechend! Nirgend ein Ueberfluß des Stoffes über die Idee, und nirgend ein Mangel! Wie haben Sie den Stoff so schön zu gruppiren gewußt! Erst die Exposition, dann treten der Reihe nach das Kind, die Mutter, die Großmutter, die Urahne mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Aussichten auf morgen hervor, und schließlich die Katastrophe. Und wie harmonisch und gefügig schließt sich dieser ebenmäßigen Gruppirung des Stoffes die streng symmetrische Gliederung der metrischen Form an! Und wie bestimmt sondern sich die einzelnen Strophen durch die refrainartigen Schluß- und Anfangsverse der vier Mittelstrophen! Was mir aber besonders lobenswerth scheint, ist die schöne Anordnung, daß jedes Mal der Anfangsvers dieser Strophen auf den Feiertag, der Schlußvers auf das Gewitter hinweist. Dadurch bleibt der Gegenstand, dem die Gedanken und Wünsche der vier Personen zugekehrt sind, und das Schicksal, das ihnen allen droht, alle vier Strophen hindurch vor unserer Seele stehen, und eine hochtragische Empfindung muß sich nothwendig unser bemächtigen. Wahrlich, Freund, da ist Ihnen etwas gelungen, woran sich nach uns noch viele Tausende erfreuen werden!“

Der Pfarrer hat damals nicht zu viel gesagt. Die Nation betrachtet noch heute das Gedicht als ein Kleinod ihrer poetischen Literatur, und auch nach uns werden sich noch viele Tausende an der Schönheit desselben erquicken.

H. Epaulis.




Bilder aus dem Berliner Rechtsleben.

Von F. K.
III.

Eine der merkwürdigsten Bibliotheken der Welt enthält das Berliner Stadtgericht. Mit Erstaunen und mit Grauen betritt man eine lange Reihe großer Zimmer, die von oben bis unten mit Folianten und Actenstücken vollgepfropft sind, und noch mehr wächst unsere Verwunderung, wenn wir erfahren, daß alle diese Tausende von Büchern nichts sind als Hypothekenbücher, – denn wir befinden uns in der Deputation für Hypothekensachen, die allein hinreichen würden, eine recht anständige Behörde zu bilden, größer als manches große Kreisgericht. Wären diese Bände leer, man könnte die Weisheit der theologischen Facultäten von ganz Deutschland hineinschreiben und behielte doch noch Platz genug für einige sinnige Anmerkungen! Wie im alten Rom die sibyllinischen Bücher nur von einem eigens dazu bestellten Priestercollegium eingesehen werden durften, so stehen die Hypothekenbücher nur dem Richter offen; für das Publicum sind die sogenannten Grundacten angelegt. Jedes der siebenzehntausend Grundstücke Berlins hat hier seine eigenen Acten; jeder Verkauf, jede Verpfändung, überhaupt jeder dasselbe betreffende Contract, befindet sich darin, so daß diese Acten oft ein höchst respectabeles Aeußere haben, vor dem der Aermste zurückschreckt, welcher zu ihrer Durchsicht verdammt ist. Dennoch ist eine derartige Beschäftigung bisweilen sehr interessant, denn man gewinnt so einen Ueberblick über den Werth der Grundstücke zu verschiedenen Zeiten. Dieser Werth hat sich in den letzten zwanzig Jahren ganz erstaunlich gehoben; Baustellen, die noch vor einem halben Menschenalter vielleicht für eintausend Thaler erworben wurden, sind jetzt für den zehnfachen Preis nicht feil. Seinen Höhepunkt hat indessen der Grundwerth bereits verlassen. Die Bauwuth, einen anderen Ausdruck kann ich nicht wählen, brachte es in den Jahren 1852 bis 1865 so weit, daß, wie man ermittelt zu haben glaubte, der Bedarf an Wohnungen noch auf zehn Jahre hinaus gedeckt sein sollte, eine Annahme, die sich jedoch schon in diesem Jahre als übertrieben herausgestellt hat. Das Gepräge dieses Zeitraumes ist übrigens ein so merkwürdiges, daß ich meinen Lesern eine Schilderung desselben nicht vorenthalten möchte.

Den sturmbewegten Jahren 1848 und 1849 folgte naturgemäß eine tiefe Stille auf politischem Gebiete, welche die Industrie mächtig begünstigte. In Berlin steigerte sich namentlich die Baulust in einer Weise, die man krankhaft nennen möchte. Der bis dahin ziemlich philiströse, meist nur auf Theater und Paraden beschränkte Gesichtskreis unserer guten Berliner hatte sich erweitert, Speculation trat an die Stelle der früheren engen Gevatterschaften,

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