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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und so wurde es auch ein beliebtes und einträgliches Geschäft, Häuser zum Verkaufe zu bauen. Dem Spießbürger fiel es zwar nach wie vor nicht ein, sich damit zu befassen; wer aber mit kühnem, berechnendem Unternehmungsgeiste nach Berlin kam, hatte die besten Aussichten. Zur Anzahlung auf Grund und Boden genügte gewöhnlich eine geringe Summe; wer nur diese erspart hatte, für den fanden sich bald Capitalisten, welche das zum Baue nöthige Geld hergaben und dafür Hypotheken auf das neue Haus nahmen. Auf diese Weise sind die neuen Stadttheile vor den Thoren beinahe durchgängig entstanden, und so hat sich ein Schlag von Berliner Hauswirthen herangebildet, der mit Recht einen gewissen, eigenthümlichen Ruf erlangt hat. Ihre ganze Laufbahn hat in der Regel nur vier Stufen: Arbeitsbursche, Hausknecht, Schankwirth (sogenannter Budiker), Hausbesitzer; in letzterer Eigenschaft führen sie den stolzen Titel „Rentier“. Der junge Mann kommt von seinem Dorfe nach Berlin und findet eine Stelle als Arbeitsbursche, Allmählich avancirt er zum Hausknechte, eine Stellung, deren Einkünfte das Gehalt eines Volksschullehrers gewöhnlich weit übersteigen und dem eines Richters bisweilen ziemlich nahe kommen sollen. Hat er hierbei einige hundert Thaler gespart, so kauft er zur Begründung eines eigenen Herdes eine sogenannte Budike, das Ideal aller Hausknechte und Droschkenkutscher. Ein nothdürftig ausgestatteter Keller ist sein Geschäftslocal, in welchem Droschkenkutscher, Arbeiter und Soldaten nach des Tages Last und Mühe – die ersteren auch während des Tages ein halbes Dutzend Mal – den inneren Menschen mit Weißbier, Kümmel und Wurst stärken. Solche Geschäfte, in denen übrigens das Sie zu den größten Seltenheiten gehört, blühen immer, und schon nach zehn oder fünfzehn Jahren hat der „Budiker“ ein Capital gesammelt, das zur Anzahlung bei einem Hauskaufe reicht. Die höchste Stufe seines irdischen Glückes ist erstiegen, Berlin um einen Rentier reicher.

Jetzt entfalten sich alle die schönen Eigenschaften, welche die gütige Natur in ihn legte. Hat er ehemals schwer gearbeitet, so stolzirt er jetzt in Schlafrock und Morgenschuhen, die Cigarre im Munde, vor seinem „Grundstücke“ auf und ab und beobachtet das Treiben seiner Miether, welche, Dank sei es den berüchtigten, von einem patriotischen Manne herausgegebenen Miethscontractsformularen, wenig mehr als seine Frohnleute sind. Versetze sich der Leser, in die Lage eines kleinen Handwerkers oder Beamten, der eine billige Wohnung sucht, d. h. hier für achtzig bis hundert Thaler jährlicher Miethe. Man trifft den Herrn „Wirth“ glücklich an, stellt sich ihm vor und hat ungefähr folgendes peinliches Verhör zu bestehen: Wo wohnten Sie bisher und weshalb wollen Sie ziehen? Können Sie die Miethe pränumerando zahlen? Haben Sie Kinder oder Hunde? etc. etc. Bejaht man die letzte Frage ganz oder theilweise, so ziehen schon bedenkliche Falten über das Antlitz des gestrengen Herrn. Kinder und Hunde sind ihm bei seinen Miethern grundsätzlich ein Gräuel; denn sie verletzen durch Ruhestörung möglicher Weise die Hausordnung, welche überall in großen Lettern mit der einfach erhabenen Unterschrift „Der Wirth“ prangt. Diese Hausordnung bis in’s Kleinste zu halten, muß sich jeder Miether ausdrücklich verpflichten, und so wird sie eine Quelle ewigen Zankens und Processirens. Wenn man den Gesetzen des Drako nachsagte, sie seien mit Blut geschrieben, so muß man der Hausordnung mindestens so viel lassen, daß sie höchst spitzfindig ausgedacht ist und eine Menge Klippen enthält, die kaum zu umgehen sind. Ein wenig auf die Treppe vergossenes Wasser, das vorübergehende Beherbergen eines zum Besuche anwesenden Verwandten reicht schon zur Anstrengung einer Exmissionsklage hin, denn die Hausordnung bedroht den geringsten Verstoß mit der Strafe sofortiger Ausweisung.

So geschieht es, daß ein guter Theil unserer Hauswirthe tägliche Gäste des Stadtgerichtes sind; freilich mißlingen ihre chicaneusen Versuche nicht selten, woran ihre erklärte Vorliebe für Winkelconsulenten viel beiträgt. Ich weiß mich eines Falles zu entsinnen, in dem eine Exmissionsklage angestellt und glänzend verloren wurde, weil der Miether einen Canarienvogel hielt, den der Herr Wirth unter die im Miethscontracte verbotenen Hausthiere zu rechnen beliebte.

Die Zahl dergleichen Winkelconsulenten ist in Berlin Legion; sie ergänzt sich aus gewesenen Justizbeamten aller Grade und gehört nicht zu den kleinsten Uebelständen unseres Rechtslebens. Auf ungefähr siebenhunderttausend Berliner kommen etwa siebenzig Rechtsanwälte, also im Durchschnitt einer auf zehntausend Menschen. Diese Zahlenangabe macht es Jedem deutlich genug, daß die Amtsthätigkeit jener Herren meistentheils nur größeren Processen zugewandt sein wird. Doch weiter! „Ohne Kreuzer kein Schweizer,“ sagte man in den Zeiten des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, und bei uns heißt es: „Ohne Kostenvorschuß kein Rechtsanwalt“. Der Arme ist also übel genug berathen; er muß, wenn er selber die nöthige Gewandtheit nicht besitzt, den Winkelconsulenten in die Hände fallen. Diese werthe Gilde verlangt nun zwar keinen Kostenvorschuß, so lange der Hülfesuchende kein Geld hat, zwickt und zwackt ihn aber nachträglich um so ärger und, was das Schlimmste an der ganzen Sache ist, verdirbt ihm gewöhnlich den Proceß. Dazu kommen die zahlreichen Betrügereien, welche von den „Winkelmännern“, wie man sie wohl am Stadtgerichte nennt, ausgeübt werden. Kein Monat vergeht, in dem nicht einer oder mehrere derselben auf die Anklagebank wandern. Wer es zu beobachten Gelegenheit hat, kann sein Vergnügen finden an der Amtswürde und dem komischen Aufwande anscheinend juristischer Gelehrsamkeit, mit welchem sie ungebildete Leute täuschen. „Das wollen wir schon machen,“ heißt es, „ich werde sofort eine Klage aufsetzen und die Verurtheilung des X. veranlassen.“ Dabei bleibt es aber dann auch. Kurz, die ganze Geschichte ist heillos, und sie wird nicht eher aufhören, als bis man sich zu der längst gewünschten und längst für nothwendig gehaltenen freien Advocatur entschließt.

In engem Zusammenhange mit der großartigen Entwickelung unserer Bauindustrie gestaltete sich aber auch ein neuer Zweig des modernen Schwindels: es entstand das berüchtigte System der vorgeschobenen Personen. Capitalien, die ihr Vermögen in kurzer Zeit verdoppelt und verdreifacht zu sehen wünschen, setzen sich mit irgend einem verdorbenen Subjecte in Verbindung, gewöhnlich wird es ein Commissionär oder Winkelconsulent sein. Dieser stellt sich nun dem Bauunternehmer, der soeben seine Ersparnisse zum Ankaufe von Grund und Boden verwendet hat, als den eigentlichen „Geldmann“ vor und schließt mit ihm einen Contract, nach welchem er Holz, Steine und die nöthigen Arbeitslöhne hergiebt. Der Unternehmer verpflichtet sich dagegen, in Höhe jener Lieferungen nach Vollendung eines Theiles des Baues Hypotheken für seinen Gläubiger eintragen zu lassen, und fängt frisch an zu arbeiten. Die Sache geht nun auch ganz gut, bis die erste Balkenlage gelegt und die versprochene Hypothek eingetragen ist. Kaum hat aber der Vorgeschobene sein Hypothekeninstrument in der Hand, so cedirt er es dem eigentlichen Capitalien, nimmt seine Belohnung in Empfang und denkt nun gar nicht mehr daran, seine weiteren Verbindlichkeiten aus jenem Contracte zu erfüllen. Eine Klage hilft gegen ihn nicht, denn wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.

Der arme, geprellte Unternehmer steht also vor seinem angefangenen Hause, ohne Mittel, es zu vollenden. Rathlos versucht er es, anderweitige Hülfsquellen zu eröffnen, da empfängt er einen recommandirten Brief. Er bricht das Siegel: die Hypothek ist ihm von ihrem jetzigen Besitzer gekündigt. Der Zahlungstermin kommt heran, er kann die bedeutende Summe nicht auftreiben, und das Ende vom Liede ist, daß ihm sein grausamer Gläubiger das Grundstück subhastiren (gerichtlich verkaufen) läßt. Ein solches Subhastationsverfahren ist aber ebenso langwierig wie kostspielig und für den Betroffenen nachtheilig. Der Capitalist ersteht natürlich das Grundstück, da er der alleinige Gläubiger ist, zu einem verhältnißmäßig geringen Preise, und sein armes Opfer ist um, die Früchte jahrelanger, mühevoller Arbeit gebracht.

Auf solche Weise pflegen unsere Blutsauger den Schweiß ihrer Nebenmenschen an sich zu bringen, und dabei ist es leider nicht einmal möglich, derartige Manöver zu bestrafen, da die Vereinbarung derselben zwischen den beiden Ehrenmännern nur in den allerseltensten Fällen nachgewiesen werden kann.

Zwei in Berlin häufig vorkommende andere Erscheinungen verdanken jener Industrie ebenfalls ihr Dasein. Es giebt hier eine große Anzahl Personen, von denen der Volkswitz sagt: „sie haben fünf Häuser und keine Schlafstelle,“ d. h. der Executor verfolgt sie so, daß sie sich nirgends blicken lassen dürfen. Dies sind entweder solche Hauseigenthümer, welche den oben beschriebenen Gaunern in die Hände gefallen sind, oder ohne jeden Pfennig eigenen Capitales zu bauen begonnen haben. Eine zweite für den Uneingeweihten merkwürdige Erscheinung sind die Inhaber der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_410.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)