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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Liebste an der Sache war und blieb uns jedoch die sinnige Art, mit welcher der Meister sich in die kindliche Reinheit jener ersten Kunstbestrebungen vertiefte. Alles, was damit zusammenhing, packte und bewegte ihn, und wir konnten bei dieser Gelegenheit bemerken, daß er jede freie Stunde dem Studium der altdeutschen Geschichte und Poesie, des alten Kirchenwesens und der ihm dienenden Kunstentfaltungen widmete. Meines Wissens hat das Griechenthum ihn kalt gelassen. Er äußerte sich wenigstens zum öftersten dahin, daß im deutschen Geiste, nach allen Seiten hin, das Höchste, das Beste, das Schönste verborgen liege, daß er allein bestimmt ist, als Führer auf allen Wegen zu dienen. Entwürfe zu Nibelungen-Gruppen beschäftigten sein tiefstes Denken, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß dem Meister die Gestalt Volker’s vorschwebte, als er die vielleicht zu wenig bewunderte, weil zu wenig bekannte Gestalt des Hammerschmiedes, eine seiner Arsenal-Statuen, meißelte. –

Während einer Pause, die Gasser nothgedrungen in seinen Arbeiten machen mußte, weil die Blöcke, die er erwartete, sich verspäteten, kam er öfters zu uns, und wenn er einmal da war, vergaß er leicht das Fortgehen. So fand ich ihn einmal, als ich kurz vor Tische von einem Ausgange heim kam, vor meiner Mutter sitzend und eifrig erzählend.

„Wollen Sie einen Löffel Suppe mit uns essen?“ sagte ich.

„Suppe?“ antwortete er, rasch aufstehend. „Ich esse keine Suppe.“

„Nun, nun,“ sagte ich lächelnd, „das ist so eine Redensart, wenn man Jemand einladet, ohne sich vorher auf einen Gast eingerichtet zu haben.“

„Sie machen also auch Redensarten!“ brummte er, sich den Bart zausend. „Wozu nur das gut ist? Die Frau Mutter macht keine Redensarten.“

„Ich bin schon zu alt,“ schaltete meine Mutter mit sanfter Stimme ein. „Ich rede überhaupt nicht.“

„Caroline B. macht auch keine Redensarten,“ bemerkte er dagegen. Es war schwer, ihn von einem Gegenstande abzubringen, der seine Gedanken, ob angenehm, ob unangenehm, beschäftigte. Wir saßen schon bei Tische, Auguste sprach von der Madonna mit dem Kinde, die er ihr vor Kurzem geschenkt hatte, und ich frug ihn, wieso er ihr seine Madonna und mir seine schöne Flußnymphe zugedacht habe, als er mit demselben brummigen Tone von vorhin murmelte: „Wo die Leute nur die Zeit hernehmen?“

„Die Zeit wozu, Meister Hans?“ fragte Auguste.

„Nun, zum Redensarten machen.“

Wir mußten herzlich lachen, und ich sagte, indem ich ein schönes Stück Fleisch auf seinen Teller legte: „Sie sind furchtbar eigensinnig, Meister Hans!“

„Ja, das bin ich!“

„Nun, so lassen Sie mit sich handeln,“ meinte Auguste. „Gewöhnen Sie sich den Eigensinn ab – wir “

„Nein, das geht nicht!“ fiel er ihr in’s Wort, „das ist so die Art des Landvolks –“

„Ja, dann,“ fuhr Auguste, die er sehr lieb hatte, scherzend fort, „dann geht es wohl auch nicht, daß wir uns die Redensarten ganz und gar abgewöhnen! Das ist so die Art des Stadtvolks.“

„Na – nichts für ungut!“ sagte Gasser jetzt freundlich, „der liebe Gott läßt Jeden mit seinen Fehlern anrennen! Wenn Sie mich wieder einmal Heimsuchen – die Frau Mutter kommt vielleicht auch mit, und die liebe Caroline B. auch – dann trinken Sie von meinem Lacrimä Christi auf die Natur und auf die Kunst … da ist Alles wahr, einfach und schön.“

Gasser nannte meine Mutter nicht „Gnädige Frau“. Das Titelgeben verstand er nicht. Wenn er aber in der dritten Person zu ihr sagte: „Hat die Frau Mutter gut geschlafen?“ oder: „Na, wie geht es der Frau Mutter?“ so lag in dem Tone, mit dem er diese nach unseren Ansichten ungehörige Form gebrauchte, eine so kindliche Ehrfurcht, daß wir Alle, und meine gute Mutter vor Allen, auch nicht ein Iota daran hätten ändern mögen.

Bemerkte er, daß meine Mutter etwas sagen wollte, so brach er die lebhafteste Unterhaltung kurz ab, winkte uns still zu sein und lauschte, seinen Oberkörper so weit er konnte vorbeugend, den leisen Worten der alten Frau mit einer Aufmerksamkeit, als ob sie das Beste enthielten, was an das Ohr eines Menschen dringen kann.

Einmal kam er mit seinem gewöhnlichen langausschreitenden Gange über den Corridor, der an unserer Wohnung entlang lief, als die Glasthür, die nach unserem Vorzimmer führte, sich öffnete und meine Mutter langsam und vorsichtig heraustrat, um nach der Kirche zu gehen. Gasser hielt plötzlich an, und den Hut seiner Großmutter rasch vom Kopfe ziehend, drückte er sich, so fester konnte, an das Geländer, um ihr Platz zu machen. Auguste und ich sahen den Vorgang aus dem Fenster, an dem wir saßen, und konnten nicht umhin, dem sonst so formlosen Manne diese Ehrerbietigkeit hoch auzurechnen. Wir sahen auch, daß er meine Mutter nicht anredete, sondern mit entblößtem Haupte so lange stehen blieb, bis sie in der Treppenbiegung verschwand. Wie hätte er auch mit einem Wort die Andacht stören mögen, mit der sie selbstverständlich den Weg nach dem Gotteshause antrat!

„Es freut mich, daß Sie meine Mutter so verehren, lieber Gasser!“ sagte ich eines Tages zu ihm.

„Mütter sind heilig!“ antwortete er und fügte nach einer Pause hinzu: „Die Frau Mutter mahnt mich an meine Mutter.“

Nun hatte ihn Auguste bei dem Thema, auf das sie ihn schon lange bringen wollte, und ließ ihn nicht mehr los. An diesem Abende erfuhren wir von ihm, der sonst nie von sich selbst reden wollte, einige interessante Züge aus seiner Kinderzeit.

Er war der jüngste von sechs Brüdern. Ein Geschlecht von Riesen wären sie. Der Vater ein Goliath. „Mit zwölf Jahren konnt’ ich meine Mutter schon unter meinem Arm weggehen lassen.“ Doch war Hans als Kind schwächlich gewesen und deshalb lange bei der Mutter zurückgeblieben, wenn die Brüder mit dem Vater und mit der Großmutter auf’s Feld gingen, um zu arbeiten. Die Mutter liebte ihn sehr, erzählte ihm Geschichten, und wenn sie Brod buk, durfte er ihr helfen und die Teigreste aus dem Troge für sich zusammenscharren. Anstatt aber aus diesem Teige ein kleines Brod für sich zusammenzukneten, was die Mutter wohl beabsichtigen mochte, knetete er allerlei kleine Figürchen daraus. Der Vater schalt, die Brüder neckten das müßiggehende Muttersöhnchen oft, und Ersterem riß endlich die Geduld, so daß er den Birken-Hans zu Hülfe nehmen wollte, um seinem Sohne Hans etwas Kraft einzubläuen. Die Mutter schützte und rettete ihn oft. Als aber der Vater eines Tages sich selbst mit rollenden Kohlenaugen und zum Dreinschlagen erhobenen Händen, seine fünf fleißigen Söhne als ungeschlachte Riesen, den Herrn Pfarrer und den Herrn Caplan, mit Einem Worte alle Leute aus dem Dorfe, nur Mutter und Großmutter ausgenommen, aus Brod, der lieben heiligen Gottesgabe, geknetet auf einem Brette aufmarschirt und leider mehr oder weniger carikirt vorfand, da half kein Flehen der Mutter, kein Bitten der Großmutter mehr! Durchgebläut wurde der „mißrathene“ Bursche von Vater Goliath, daß ihm Hören und Sehen verging, und den nächsten Tag mußte er mit, um tüchtig zu dreschen, wollte er selbst nicht nochmals gedroschen werden.

Darauf folgte eine lange böse Zeit und endlich der Tod der lieben Großmutter, die ihrem Lieblingsenkel Hans sechs Silbergulden, in einen alten Strumpf vielfach eingenäht, und ihren breitkrämpigen schwarzen Filzhut vermachte. Verstohlen schlich Hans da und dorthin, um Thiere und Menschen zu beobachten und abzuzeichnen. Zwischen ihm und dem Vater gab es niemals Frieden.

Einmal, als die Familie aus dem Sonntagsgottesdienste heimgekehrt war und sich eben wieder zwischen Vater Goliath und seinem „nichtsnutzigen“ Sohn ein arger Auftritt entsponnen hatte, fiel es der Mutter in ihrer Herzensangst ein, zu dem Vater die Worte zu sagen: „Aber, lieber Mann, der liebe Gott, der die Leute erschafft, die die ganze Woche auf dem Felde arbeiten, muß doch auch die Leute erschaffen, welche die schönen Muttergottesbilder machen, die sie am Sonntag um Beistand in der Arbeit und in aller Noth bitten können. Unser Hans ist vielleicht vom lieben Gott dazu bestimmt.“

Vater Goliath sah sein Weib verwundert an und sagte nichts. Er sagte mehrere[WS 1] Tage nacheinander nichts. Auch die Mutter und Hans waren ganz still. Eines Tages ging der Alte zu dem Gutsherrn, der die Familie kannte und sich schon einige Mal dahin geäußert hatte, daß sie den Hans in die Welt ziehen lassen sollte, damit er etwas lerne. Als der Alte wieder kam, zog er die Schublade des Kastens auf, in welcher der Beutel mit dem Gelde lag. Nach einigem Besinnen seufzte er tief auf, nahm fünf Gulden heraus, wog und drehte sie in den Händen hin und her, und endlich gab er sie mit abgewendetem Gesichte seinem Sohne Hans.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mehre
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_442.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)