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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und zu verhüllen. Ihm war, als sähe er sie dennoch schon in ganzer Gestalt, mit allen Gesichtszügen, vor seinem inneren Auge stehen; den feinen sprechenden Blick, längliche Wangen, einen etwas schwermüthigen Mund mit träumerisch aneinander geschmiegten Lippen. Er dachte sie sich unwillkürlich nach seiner eigenen Art. Ihm wurde sehr weich zu Muth; ohne es zu wissen, bewegte er die Lippen und flüsterte den Namen „Annette“ ganz gerührt vor sich hin. Auf einmal schreckten ihn lautes Klatschen und beifallrufende Stimmen auf. Er öffnete die eingedrückten Augen und starrte in den überhellen Raum hinein. Die Gesellschaft hatte sich zum Theil herzugedrängt und schlug die Hände eifrig zusammen; Demoiselle Amalie, mit niedergesenktem Notenblatt, verneigte sich lächelnd unter neuem Erröthen, neben ihr aber stand noch eine zweite Gestalt. Die junge Dame mit dem blauen Band hatte sich erhoben und hielt ihre Augen gerade auf den Träumer in der Nische geheftet. Sie hatte eine ihrer Hände auf das Clavier gelegt, die andere schien noch auf den Tasten zu ruhen, und mit ruhiger Neugier dämmerte ihr ernsthafter Blick zu ihm hinüber.

Bei diesem Anblick faßte ihn eine ganz unerwartete Verwirrung, denn er entdeckte, wie sehr seine Phantasie ihn irre geführt hatte. Das Gesicht, das er sah, war viel zierlicher und kindlicher, als er es sich vorgestellt, die Augen von einem sehr in’s Graue spielenden Blau, groß, aber schüchtern und ohne lebhafte Sprache, der Kopf mehr rund als oval, und die dunkelrothen Lippen von einer durchaus nicht melancholischen Holdseligkeit, vielmehr wie zum Lächeln bestimmt. Auch in der ganzen Gestalt lag ein Ausdruck sanfter Schüchternheit, der sich nirgend festhalten und doch nicht verkennen ließ. Sie schien so wenig dazu geschaffen, die Bosheit der Menschen zu erwecken. Der zierliche Hals, die etwas schmächtigen Arme, das zarte, rundliche Kinn, Alles schien noch an ihr zu knospen. Kaum bemerkte sie, daß seine geöffneten Augen sie anstarrten, als ihr Blick, in einer überaus reizenden Weise sich verschleiernd, seitwärts hinausglitt. Einige der Herren näherten sich ihr, um auch ihr über ihr Spiel etwas Angenehmes zu sagen; sie überhörte es eine Weile, bis sie auf einmal herumfuhr und im Vorbeifliegen ihr Blick sich an den glühenden Augen in der Nische gleichsam vorüberdrängte.

„Hier muß man Sie suchen, Charles!“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme neben ihm, und eine vertrauliche, magere Hand legte sich dem Träumer auf den Arm. „Wo starren Sie hin? Hat Demoiselle Amalie es Ihnen angethan? Sie sind sehr ingeniös, lieber Charles, sich hier im einsamen Hinterhalt aufzustellen.“

Die Demoiselle Merling hatte sich ihm unbemerkt genähert und sah ihm, während sie diese Anmerkung machte, spöttisch klug in’s Gesicht. Das alte Fräulein war in seinen Knabenjahren, nach dem frühen Tod seiner Mutter, als Hausdame an deren Stelle getreten und hatte sich aus jener Zeit die Rechte einer mütterlichen Freundin bewahrt, die sich noch immer zur Familie rechnen durfte. Sie war ein wenig verwachsen, aber ohne daß es sie eigentlich entstellte; ihre grauen, klugen Augen lagen wie in einem Ring von großen und kleinen Falten, die, wenn sie sprach, fast stets in Bewegung waren. Sie trug sehr kleine, aber sehr hohe Schuhe, um ihre allzu winzige Gestalt zu erhöhen. Sie galt, nach den Begriffen jener Zeit, für eine gelehrte Frau, und so viel war unzweifelhaft, daß sie von Allem wußte, was in der Stadt und in weitem Umkreise vorging.

„Tante Merling,“ erwiderte Karl, indem er sie sichtbar aufgeregt anstarrte, „wer ist diese andere junge Demoiselle da? Sie sprachen vorhin mit ihr, Sie kennen sie?“

Die alte Dame lächelte und klopfte mit ihren dünnen Fingern auf seinen Arm. „Also nicht Demoiselle Amalie!“ sagte sie. „Heut’ ist’s eine Andere. Sie sind mir der Rechte, Charles, Sie werden noch ganz und gar Franzose, mit Ihren emancipirten Ideen, Sie Revolutionär, Sie Mann der neuen Zeit’. Immer für das Neue –“

„Ich habe Sie nicht gefragt, Tante Merling, was Sie von mir denken, sondern wer diese junge Dame ist, die eben davongehen will.“

„Soll ich Sie etwa vorstellen?“ sagte die Alte mit ihrer listigsten Miene. „Ich dachte übrigens, Sie kennten unsere kleine Annette schon! Sie ist etwas unscheinbar, aber ein Mädchen comme il faut, lieber Charles, comme il faut. Ihre Mutter war beauté zu meiner Zeit.“

Karl sah wieder hinüber, aber seine aufgeregten Züge waren mittlerweile still geworden. „Sie haben Recht,“ erwiderte er mit scheinbarer Seelenruhe, „sie ist etwas unscheinbar. Aber sie sieht gutmüthig aus, freundlich. Wenn Sie es wünschen, nun ja, so stellen Sie mich ihr vor; ich sollte ihr wohl über ihr Clavierspiel etwas Artiges sagen.“

Die alte Dame betrachtete ihn mit ebenso verwunderten wie prüfenden Augen. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er von diesem ihrem Clavierspiel nicht eine Note gehört hatte.

„Sie sind ein recht charmanter Heuchler, lieber Charles, Sie vergessen mir, wen Sie vor sich haben! Uebrigens habe ich die kleine Annette in meine besondere Protection genommen, merken Sie sich das! Ich will Sie vorstellen – Sie Beide. Kommen Sie, mein alter Wilhelm, kommen Sie“ – da dieser eben mit großen Schritten neugierig herantrat – „Sie sollen meine kleine Schwärmerin, die Elevin meiner Seele, kennen lernen und mir dann sagen, ob ich’s mit ihr verfehlt habe.“

Mit diesen etwas pomphaften Worten nahm sie die beiden jungen Männer bei der Hand und führte sie quer über den Saal auf das Mädchen zu, das jetzt in einer der offenen Thüren stand und in’s Nebenzimmer hineinsah. Es war ein drolliges Bild, die kleine, auf ihren hohen Absätzen trippelnde Dame zwischen den schlanken, vornehm jugendlichen Gestalten zu sehen, die in ihren braunen Sammetröcken und goldgestickten Westen hoch über sie emporragten. „Annette!“ rief sie eifrig, und das Mädchen wandte sich herum. Es wird nun endlich Zeit, daß Sie mit meinen ehemaligen Söhnen Bekanntschaft machen; kommen Sie, mon enfant!“ Sie sprudelte die beiderseitigen Namen hervor und nahm dabei Annettens Hand in die ihre, um sie ein Mal über das andere zu streicheln. „Mon dieu, wie sie roth wird!“ sagte sie und lachte mit etwas süßlicher Heiterkeit. „Wir führen sie heut’ zum ersten Mal in die große Welt, man sieht’s ihr an! Und nun denken Sie, mein alter Wilhelm, sie wird heute nicht einmal tanzen, sie hat Kopfweh, das böse Kind. Mon dieu, als ich noch so ein Ding war, da gab’s keine Kopfschmerzen! Da gab es Education, und weiter nichts! Aber die junge Welt von heute – und das Träumen, das Schwärmen, das Gedichtelesen –“

In diesem Augenblick trat Amalie hastig in eine andere Thür und rief ihren Namen, und Demoiselle Merling, eifrig wie immer, nickte ihr zu und rauschte mit ihrer seidenen, grauen Schleppe hinaus.

Annette blieb stehen und sah den schönen blonden Wilhelm, der ihr in seiner raschen Weise näher trat, mit dem arglosen Blick eines Vogels, den Andern mit unsicheren, schüchternen Augen an. Das erste Erröthen war von ihr gewichen, aber eine reizende Unruhe flog von Zeit zu Zeit über ihr Gesicht. Wilhelm fing eilfertig an mit ihr zu reden. Worte flossen ihm wie immer leicht über die Lippen; seine Augen waren voll des liebenswürdigsten Feuers und sagten sehr deutlich, daß er sie reizend finde.

Unterdessen stand Karl in der tiefsten Zerstreuung, in das liebliche Bild vor ihm versunken, da. Es that ihm wohl, daß er ihr nichts zu sagen brauchte, daß Wilhelm sprach. Seine ganze Seele war beschäftigt, die erste falsche Vorstellung seiner Phantasie und diese sichtbar vor ihm lebende Gestalt zu verschmelzen. Er sah wieder auf ihre leuchtende Stirn, hinter der sich die Gedanken durchsichtig zu bewegen schienen, fühlte wieder denselben seltsamen Trieb, der ihm vorhin die ganze Wahlverwandtschaft ihrer Seelen, die träumerische Schwermuth ihrer Lippen vorgemalt hatte, – und ward dann von Neuem durch diesen blühenden, kindlichen Mund enttäuscht, der noch nicht zu ahnen schien, was eine Menschenseele von der andern begehren mag.

Endlich fühlte er die Verpflichtung, auch seinerseits ein Wort zu dem Mädchen zu sagen; aber eben fingen einige Geigen in einem der Nebenzimmer zu spielen an, Wilhelm brach mitten im Satze ab, um zu seiner Tänzerin zu eilen, und die ersten Paare tanzten über die Schwelle herein, gerade auf Karl und Annette zu. Er mußte zurücktreten, um Platz zu machen. Ein Paar über das andere walzte in den Saal, der Raum füllte sich schnell, und er verlor Annette aus den Augen. Nun fiel ihm erst ein, daß er noch gar nicht an eine Tänzerin gedacht hatte. Er stand allein mitten im Saal, wie die Wendesäule in der Rennbahn; bald rauschte ein Rockschooß, bald ein luftiges Kleid gegen seine Kniee. Der Träumer raffte sich auf, schob sich durch die Kette der Tänzer hindurch und fand sich wieder bei den Oleanderbäumen in seiner Nische. Hier leuchtete ihm Annette’s weißes Kleid aus dem Grün entgegen. Sie hatte sich ebenfalls in diese Ecke geflüchtet, kümmerte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_467.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)