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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Lebens: die Farm, der Werkschuppen, das Dorf, die Kirche, das Schulhaus, die Zeitungspresse und als das specifischst Amerikanische von Allem das wohlgeordnete und wohlgegliederte System der öffentlichen populären Vortrage.

Kaum sehen wir den neuen Ort im Westen zu ein paar hundert primitiven Wohnstätten angewachsen, so muß nach dem Gaukler, dem wandernden Circus und den „äthiopischen Minstrels“ sicher auch schon der „Lecturer“ herbei, welcher den Geistern in der Wildniß draußen die Civilisation von jenseit der Alleghanyberge vermittelt; man will ihn sehen, den Redner, den Dichter, den Philosophen, und ob man ihn auch Tausende von englischen Meilen aus den Städten Neu-Englands verschreiben muß. Rasch werden die Vorbereitungen zu einem besonderen Cursus von öffentlichen Vorträgen getroffen, in den man höchstens ein paar Concerte mit aufnimmt. Man beruft eine Versammlung, bestimmt meist einen Theil des vom Unternehmen erhofften pecuniären Gewinnes zu irgend einem Wohlthätigkeitszwecke, sichert sich durch die Subscriptionen gemeinnütziger Männer vor allfälligem Deficit und ernennt das „Lecture-Committee“, aus dessen Mitgliedern der die Redner einladende Secretär, der Schatzmeister des Vereins und der Präsident, welcher die Vortragenden bei dem Publicum einzuführen hat, erwählt werden. Die Vorlesung ist nun das wöchentliche Ereigniß des Ortes; alle anderen Localveranstaltungen und Ereignisse müssen ihm weichen, und es zieht aus weiter Entfernung Zuhörer herbei, d. h. falls dieselben neuenglischer Abkunft sind, denn über einen bestimmten Breitengrad hinaus findet das Institut keinen gedeihlichen Boden, wie sich ihm im Allgemeinen auch die fremden Einwanderer fern zu halten pflegen, welche es gleich anderen Nationalgerichten höchstens höflich kosten, doch nur selten ihm Geschmack abgewinnen können.

Ein halb Dutzend bis zwanzig machen den Wintercyklus dieser Vortrage aus, die ursprünglich die verschiedensten Disciplinen, Religion, Naturwissenschaft, Technik, Geschichte, Philosophie und Poesie in ihren Bereich zogen. Zunächst besteht jede einzelne Localorganisation für sich, bald jedoch thun sich einige benachbarte Städte zusammen, um das Unternehmen gemeinschaftlich zu fördern und so gewissen Lieblingslecturern in derselben Reiserichtung eine ganze Reihe von Engagements darbieten zu können. Auf diese Weise ist nach und nach ein sehr ausgebildetes und weitverzweigtes System von „Literarischen Vereinen im Westen“ entstanden, dessen Gebiet von Pittsburg in Pennsylvanien sich bis nach Laurence in Kansas erstreckt. Der Agent dieser Associationen, ein Herr Torbert in Dubuque, Iowa, hat im verflossenen Winter zwischen fünfunddreißig Lecturern und einhundertundzehn litterarischen Vereinen abgeschlossen und dadurch jeder einzelnen Stadt einen nennenswerthen Cursus regelmäßiger Vortrage, jedem Lecturer eine ansehnliche Folge von Engagements verschafft.

Allemal im Herbst veröffentlicht er sein Verzeichniß von Vorlesern mit ihren verschiedenen Thematen und Preisen und überläßt dann jedem Verein, aus dieser Liste seine Auswahl zu treffen. Sobald der Lecturer sich einen Ruf zu gründen verstanden, hat er weiter keine Mühe bei der Sache. Er stellt nur seine Forderungen – alles Andere besorgt der Agent – und begiebt sich darauf mit einem gedruckten Circular in der Tasche, aus welchem der Reihe nach sein Dutzend oder sein Hundert Engagements, wie es gerade der Fall ist, gedruckt stehen, auf die Fahrt gen Westen. Vielleicht hat er die Namen von manchen der Städte, wo er Vortrage zu halten hat, noch niemals gehört, allein das thut nichts, ist er doch sicher, daß er überall sein Publicum findet und seine Dollars einstreicht.

In jedem Orte erwartet ihn bei seiner Ankunft sicher ein Mann des Vorlesungs-Comités, und der Eine erkennt sofort den Anderen durch eine gewisse Freimaurerei der Augen, die selten fehl geht. Mit einem Worte, die Maschinerie des Ganzen greift so wohl ineinander und arbeitet so glatt und ruhig, daß eine Unterbrechung ihres Ganges kaum zu fürchten ist, wenn nicht etwa einmal ein großer Schneesturm zwanzig Lecturer zugleich auf ebenso vielen Eisenbahnen blockirt und derart das Publicum von zwanzig einzelnen Orten vergeblich warten läßt, denn keine Vorlesung, die aus irgend welchen Gründen vereitelt worden ist, kann nachgeholt werden; der Wanderleser muß ja nach der nächsten Stadt auf seiner Route eilen und dort am bestimmten Tage eintreffen.

Ein aufregendes Leben ist es, was diese Vorleser führen! Wäre auch das Publicum noch so langweilig und gleichgültig, schon der Hinblick auf die materiellen Erfolge seiner Wirksamkeit müßte das Interesse des Lecturers wecken und erhalten. Allein das Publicum ist selten langweilig und gleichgültig, und es verlohnt schon der Mühe, ihm Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Freilich muß er Nacht für Nacht auf der Eisenbahn zubringen und in einem „Schlafcoupé“, so gut es gehen will, zu ruhen suchen, während sein Schaukelbett Meile um Meile weiter gerüttelt wird. Kaum graut der Tag, so hat er sich vielleicht aus seinem Schlummer zu reißen, um ein anderes trostloses Vehikel zu besteigen oder, mitten in der Wildniß, fröstelnd ein wenig erquickliches Frühstück hinabzujagen, und so geht es weiter und weiter, bis er bei sinkender Nacht an seinem Bestimmungsorte anlangt und, im höchsten Stadium menschlicher Abgespanntheit und Erschöpfung nach dem Saale eilen muß, wo das Publicum schon ungeduldig seiner harrt. Hier aber ändert sich mit Einem Male die Scene. Mit dem Glanz der strahlenden Gaslampen kehren ihm Kraft, Spannung, Begeisterung zurück, gerade wie die Fußlichter den abgehetzten Schauspieler neu beleben. Der helle Saal grüßt ihn wie ein alter Bekannter, die Gesichter erscheinen ihm wie die vertrauter Freunde und das Publicum kommt ihm vor, als sei es mit ihm von den östlichen Gestaden gen Westen gefahren. Unter allen Umständen werden diese Männer und Frauen da lachen, wo ihre Vorgänger gelacht, an den Stellen Beifall klatschen, wo diese Letzteren Beifall geklatscht haben, und wenn es auch schwer sein mag, in einen Einleitungssatz neues Leben und neue Kraft zu gießen, der schon volle vier Wochen und genau zur selben Stunde hat seine Schuldigkeit thun müssen, so ist es doch möglich. Die Begeisterung, eine neue Anspielung, ein neues Bild stellen sich ein, mit jeder Minute fließt der Strom seiner Beredsamkeit voller, bis er mit einem wohlgelungenen „Abgang“ demüthig die Tribüne verläßt und mit geziemender Bescheidenheit die Complimente des Präsidenten entgegennimmt. Zur Erwiderung dieser Artigkeiten lobt er die Bildung seiner Zuhörerschaft so wie Architektur und Akustik des Stadthaussaales und schüttelt dann sämmtlichen Mitgliedern des Comites und anderen tonangebenden Notabilitäten die Hand. Jetzt ist Alles Friede in ihm, und mit dem Bewußtsein wohlerfüllter Pflicht zieht er sich in sein Hotel zurück oder erfreut sich der Gastfreundschaft eines kleinen westlichen Hauswesens, wo er sich mit Güte und Freundlichkeit überschüttet findet, für die man keine andere Gegenleistung von ihm erwartet, als die jüngsten Neuigkeiten aus den Städten des Ostens. Hinweg ist jetzt alle Abspannung und Erschöpfung, mit der leicht errungenen Popularität gewinnt sein Geist neue Schwungkraft und Elasticität, und sein Lecturerleben dünkt ihm eine köstliche Existenz.

Auch am anderen Morgen, während er, um hundert Dollars reicher, in der kühlen Frühluft neuen Feldern und Weidegründen entgegendampft, bleibt seine Stimmung gehoben, und nur erst, wenn der Tag sinkt, überkommt ihn wieder das ganze Gefühl seiner trostlosen Einsamkeit und des Tretradwerkes, welches er treibt, erhöht durch den unerquicklichen Aufenthalt in den amerikanischen Hotels und den schlechten Stationsrestaurationen mit ihrer schweren, unverdaulichen Speise, da wo der Zug hält. In seinem Reisecostum meist unerkannt seine Straße ziehend, muß er vielleicht dem Coupénachbar seine eigene äußere Erscheinung beschreiben, sich den Besuch seiner eigenen Vorträge anrathen oder, nach Befinden, auch davon abrathen lassen, also lebendig der Bestattung seines Namens und Ruhmes beiwohnen. Desgleichen macht er manchmal die Erfahrung, wie das Interesse, welches er zu seiner Freude das Publicum an den Tag legen sieht und das, je näher er seinem Ziele kommt, je allgemeiner und lauter wird, auf ganz andere Gründe zurückzuführen ist, als auf seine persönlichen Leistungen und Verdienste.

So erinnert sich der amerikanische Lecturer, dessen Aufzeichnungen wir im Wesentlichen gefolgt sind, einer Eisenbahnfahrt, auf welcher die Passagiere nicht nur, sondern selbst Schaffner und Bahnbeamte sich fast ausschließlich von dem am Abend zu erwartenden Vortrag unterhielten und versicherten, daß nichts in der Welt sie von der Theilnahme an demselben abhalten würde.

Ein solches auffälliges Interesse schien ihm weder seinem Rufe im Allgemeinen noch der besonderen Vorlesung zu entsprechen, um die es sich handelte; er konnte sich in der That die Ursache dieser ungewöhnlichen Sympathie nicht erklären, nahm sie indeß als das angenehmste Omen mit auf den Weg. Als er sich auf der kleinen Zweigbahn, in welche man eingelenkt war, seinem Ziele näherte,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_474.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)