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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Der Teufel.
(Fortsetzung.)


Nach einer kurzen Pause fuhr der Präsident von Römer in seiner Erzählung fort: „Franziska ging, um ihre Promenade zu machen, aber als sie kaum fort war, überfiel mich eine unbeschreibliche Unruhe. Ich konnte nicht mehr arbeiten, es litt auch mich nicht mehr im Hause. Ich kleidete mich also an und folgte ihr, denn ich hatte eine Vermuthung, wohin sie gegangen sein könne. An die Stadtpromenade schließt sich fast unmittelbar die sogenannte Sebastiansschlucht an, eine enge dunkle, aber durch ihre vielen romantischen Partien anziehende Felsenschlucht. Ich wußte, daß Franziska schon einige Male mit einer Jugendfreundin, die sie hier wieder fand, da gewesen war, und bei ihrer Aufregung und bei ihrem Wunsche, allein zu sein, dachte ich mir, ja hielt ich es für unzweifelhaft, daß sie ihren Weg zu der finsteren, einsamen, romantischen Schlucht genommen habe. Ich wandte mich also zu der Gegend der Promenade, in welcher an diese die Schlucht stößt. In der Stadt konnte ich Niemanden nach ihr fragen, auf der Promenade jedoch traf ich einen Bekannten, den Regierungsrath Amberg, den ich fragte, ob er meine Frau nicht gesehen habe. Er antwortete mir, sie habe vor etwa zehn Minuten den Weg nach der Sebastiansschlucht eingeschlagen. Ich wollte Franziska und mich nicht compromittiren, indem ich daher Herrn von Amberg dankte, setzte ich hinzu, ich sei also auf dem richtigen Wege, meine Frau erwarte mich in der Schlucht, und ich eilte in diese. Jetzt hatte ich die Gewißheit, Franzika nicht zu verfehlen. Um so schwerer fiel die Ahnung eines Unglücks auf mich; sie sollte zur Gewißheit werden, ich sollte zu spät kommen, das Unglück geschehen sein, bevor ich ankam, es sollte in entsetzlicher, in gräßlicher Weise sich fast vor meinen Augen zutragen!

Ich schritt in die Schlucht, und es war schon Abend geworden, als ich die Mitte derselben erreicht hatte; in dem engen tiefen Einschnitt des Gebirgs herrschte völliges Dunkel. Niemand war mir begegnet, ich hatte keinen Laut vernommen, der mir die Gegenwart eines Menschen außer mir angezeigt hätte. So kam ich zu einer Stelle, wo die Schlucht sich erweitert, namentlich wo auf der rechten Seite die Felsen weiter zurücktreten, aber zugleich auch höher und schroffer werden. In demselben Augenblicke gewahre ich oben auf einer scharf vorspringenden Felsenkante eine dunkle Gestalt und glaube ein menschliches Wesen zu erkennen. Franziska! will ich rufen, das Wort erstirbt mir auf den Lippen. Die Gestalt da oben schwankt, beugt sich vor, stürzt nieder, verschwindet in dem Dunkel der Schlucht. Aber entsetzliche Laute dringen in mein Ohr. Der Fels hat vorspringende Spitzen und Zacken, auf jede Spitze, auf jede Zacke höre ich einen Körper fallen, rasch, mit reißender Schnelle, und doch schwer, dumpf, bis unten in die Tiefe hinunter, und bei jedem Fall höre ich ein unterdrücktes Wimmern, das Wimmern einer Frau. Es war zehn, fünfzehn Schritte vor mir. Ich stürze hin. Franziska! kann ich jetzt rufen. Ich bekomme keine Antwort. Ich erreiche die Stelle, wo der niedergestürzte Körper liegen muß. Ich sehe keine Bewegung; ich vernehme keinen Laut. Aber Franziska lag da, meine arme, unglückliche Frau, mit furchtbar zerschmettertem Körper, mit gräßlich entstelltem Gesicht. Sie war todt. Es war ein Glück für sie. Soll, kann ich Ihnen meinen Schmerz schildern, Vater? Dann meine Angst bei dem Gedanken an meine armen Kinder, welche die Mutter vermissen, ihren Tod erfahren mußten? Erlassen Sie mir das Weitere.“

Der Präsident schwieg.

„Denken Sie an einen Zufall oder an einen Selbstmord, Herr Sohn?“ mußte der Geheimrath dennoch fragen.

„Wie könnte ich an einen Selbstmord glauben?“ rief der Präsident. „Was könnte sie zu einem solchen veranlaßt haben?“

Der Wagen war an dem Hause des Präsidenten angelangt. Schwiegervater und Schwiegersohn stiegen aus.

„Sie entschuldigen mich auf eine Stunde, Herr Vater,“ sagte der Präsident. „Sehr wichtige Amtsgeschäfte nehmen mich auch heute in Anspruch, und die Kinder sehnen sich so sehr nach dem Großvater, von dem sie in jeder Stunde seit der Trennung von ihm sprechen.“

Damit ging der Präsident in sein Arbeitszimmer. Der Geheimrath begab sich in das Wohnzimmer, in dem seine Enkel auf ihn warteten; wie Herr von Römer zu dem buckeligen Advocaten gesagt hatte, zwei Mädchen und ein Knabe.

Die Mutter war eine brave und gewissenhafte, aber eine unglückliche Frau gewesen, der Vater ein Mann von Ehrgeiz, der jede hohe Stellung, welche er einnahm, immer nur als eine Stufe zu der höchsten im Staate und in der Gesellschaft betrachtete, der daher stets ebenso voll Bewußtsein, wie voll Rücksicht war. So hatten die Kinder eine ihr Inneres wie ihr Aeußeres sorgfältig bildende Erziehung genossen, durch welche jedoch ihre Eigenthümlichkeiten nicht verwischt waren. Mathilde, die älteste, war ein feines, sanftes, zum ernsten Nachdenken geneigtes Mädchen, Fanny, die zweite, hatte das rasche, entschlossene Wesen der Mutter. Der Knabe war still, ruhig, mehr ein beobachtendes als mittheilsames Kind; wenn er sprach, so war das kurz, entschieden, etwas derb. Sie liebten alle Drei den Großvater.

Der Präsident hatte bis zu seiner Versetzung auf seinen gegenwärtigen Posten in jener andern Provincialhauptstadt gelebt, in welcher auch der Geheimrath von Wangen angestellt war. So waren die Kinder unter den Augen des Großvaters aufgewachsen und seine kleinen Lieblinge geworden. Sie hatten ihn heute nur flüchtig gesehen, da er bald nach seiner Ankunft mit dem Vater zu dem Leichenbegängniß der Mutter hatte fahren müssen.

Die Mädchen hatten an diesem keinen Theil nehmen dürfen, erst am Abend sollten sie das Grab der Mutter besuchen, um Kränze darauf zu legen, an denen sie jetzt unter Aufsicht der Erzieherin arbeiteten.

Die Gouvernante verließ das Zimmer, als der Präsident eintrat. Sie wollte den Gefühlen, die auf beiden Seiten sich aussprechen mußten, keinen Zwang auflegen. Mathilde saß bei ihrer Arbeit mit stillen Thränen, die auf die Blumen fielen. Fanny arbeitete mit einem fast hastigen Eifer. Der Knabe reichte ihnen still die weißen Immortellen und die grünen Epheuranken zu.

Bei dem Eintreten des Großvaters standen sie auf, ihm die Hände zu reichen, die beiden Mädchen stumm. Der Knabe sagte kurz: „Guten Tag, Großvater.“ Sie mußten sich wieder an ihre Arbeit setzen, und der Großvater setzte sich zu ihnen. Alle hatten sie in ihrem Schmerz keine Worte, auch der Großvater nicht. Er küßte nur schweigend die weinende Mathilde auf die Stirn.

„Arme Kinder!“ sagte er dann leise für sich.

„Ja, Großvater,“ rief Fanny fast zornig, „und das Schlimmste ist, wir haben die Mutter nicht einmal wiedersehen dürfen!“

„Der Vater wollte uns den Schmerz ersparen,“ bemerkte beschwichtigend Mathilde. „Ihr Anblick soll ein gar zu trauriger gewesen sein.“

„Und jetzt muß ich ihn mir nur desto schrecklicher denken,“ sagte die Jüngere.

Der Geheimrath suchte von dem Gegenstande abzulenken.

„Das Unglück geschah am Dienstag Abend!“

„Und erst am Mittwoch theilte man es uns mit,“ fiel Fanny ein.

Mathilde aber sagte: „Es war ein sehr schwerer Tag für uns. Schon am Abend vorher, am Montag, war es so schrecklich. Die Mutter war am Nachmittag ausgegangen, zu einer Freundin, der Majorin von Hake. Gegen Abend ging auch der Vater aus, eine Promenade zu machen. Er kam zuerst zurück, aber ich erschrak, als ich ihn sah. Sein Gesicht war leichenblaß, und seine Augen, o Großvater, kann Dir nicht sagen, wie sie waren. Ich konnte nicht hineinblicken, mir wurde so angst. Und doch mußte ich ihn ansehen, er war so krank, so müde, und dann auf einmal wieder so schrecklich, daß es mir heiß über den ganzen Körper lief, wenn ich ihn sah. Er hatte kein Wort gesprochen, als er kam, hatte sich nur ermüdet auf das Sopha gesetzt. Ich fragte ihn, was ihm fehle. Er antwortete mir nicht. Als ich ihn nochmals fragte, winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn verlassen möge. Eine Stunde später kam die Mutter. Der Vater hatte nicht nach ihr gefragt. Sie war fast bleicher, als der Vater, und ihre Augen waren verweint. Auch sie sprach kein Wort. Sie setzte sich in eine Ecke des Zimmers und weinte da wieder. Der Vater war in seine Stube gegangen. Ich war allein mit ihr. ,Mutter, Mutter, was fehlt Dir?’ fragte auch ich sie. Auch sie


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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_526.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)