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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 36.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Schluß.)


„Gerechter Gott!“ rief Karl fassungslos aus, „so sind wir Alle betrogen! Annette – Mein Kopf, mein Kopf! – Was ist geschehen, daß dieses Bekenntniß – daß diese Stunde – –“ Er sah und hörte nicht mehr, es tanzte ihm vor den Augen. Er lehnte sich an den Tisch; „Annette,“ hob er wieder an, „warum – warum gaben Sie ihm Ihre Hand? Warum erfuhr ich es erst, als Alles zu spät war?“

Annette antwortete nicht, sie setzte sich langsam wieder nieder und saß aufrecht da, aber all ihr Blut schien sich entfärbt zu haben und ihr Busen flog. „O mein Schicksal!“ sagte sie endlich, und ihr Gefühl brach ihr über die Lippen, „so täuschte sie mich, so hat sie mich betrogen!“

„Wer hat Sie getäuscht?“ rief Karl mit überlauter Stimme. Sie sah voll Angst zu ihm auf, ihr Blick flehte ihn an, sich und sie nicht durch so laute Töne zu verrathen. „Ich habe Ihrer Tante geglaubt,“ flüsterte sie, „der Demoiselle Merling – sie sagte mir, daß Sie mit keinem Gedanken – daß Sie mich nur wie eine Schwester – –“ Die Zunge versagte ihr, und ein lautes Weinen drang ihr ans der Brust.

Karl stand in allen Gliedern erschüttert da, von dieser Entdeckung betroffen. Er ergriff endlich Annettens Hand, um ihr gemeinsames Schweigen wenigstens durch eine Bewegung zu unterbrechen; er drückte sie trostlos, ließ sie wieder fahren, und plötzlich bestürzt wich er einen Schritt zurück, als hätte er fremdes Eigenthum angerührt. Die widersprechendsten Gefühle, schaudernde Wonne und freudetrunkene Verzweiflung warfen sich auf sein Herz. „Annette!“ sagte er endlich mit zerschmelzender Stimme, „wie war es möglich? Wie konnten Sie so schnell an mir verzagen?“ Er beugte sich über sie, und der unendliche Schmerz, der um seine Lippen lag, drang ihr in die Augen.

„O meine Eltern!“ weinte sie, „– mein Vater – sie Alle drängten so sehr – und ich, in meiner Einsamkeit, in meinem Jammer – ich hoffte auch es zu überwinden, zu vergessen – aber niemals, niemals! – Niemals!“ wiederholte sie in trostlosem Schluchzen und warf sich in’s Sopha zurück, um dieses Bekenntniß und ihre aufglühende Scham in den Kissen zu begraben.

„Stehen Sie auf, Annette,“ sagte Karl erschüttert und suchte sich zu fassen. „Richten Sie sich auf, trocknen Sie Ihre Thränen; Wilhelm, Wilhelm wird kommen! So gilt es denn also, sich zu trennen, Annette, sich für immer zu trennen. Es ist ein trauriges Loos, – weinen Sie nicht, Annette! Wenn Ihre Thränen Sie verrathen, so ist’s auch um Wilhelm geschehen; lassen Sie ihn nicht erfahren, wie unglücklich wir sind wir und er. O mein Gott!“ Er horchte wieder, ob der Bruder noch nicht komme, aber Alles war still. Annette hatte sich aufgerichtet, die letzten Thränen flossen ihr noch über die Wangen. „Ich will Ihnen etwas geloben, Annette!“ fuhr er mit düsterem, melancholischem Lächeln fort, „aber ich weiß nicht, ob ich es halten werde. Ich will Sie nur wie meine Schwester lieben, – ich will’s versuchen. Vielleicht, daß es mit der Zeit gelingt, wenn man’s bei Zeiten beschließt! Geben Sie mir die Hand, Annette – meine theure Annette. Geben Sie mir Ihre schwesterliche Hand.“ Er hatte sich ihr mit ruhiger Miene, in stiller Wehmuth genähert; er fühlte die warme Hand, weich wie Sammet, in der seinen, ihr feuchter Blick voll elender, selbstvergessener Liebe flog zu ihm hinauf, – seine Sinne, seine Gedanken verwirrten sich. Mit einem bangen Seufzer zog er ihre Hand an seine Brust, zog sie selber nach, und wie Sterne, die unwiderstehlich zusammenfallen, lagen sie sich in den Armen.

Ein dumpfes Geräusch nahe der Thür, die zum Vorplatz führte, schreckte die Unglücklichen auf. Es klang wie ein Fall, doch mit schwachem, gedämpftem Ton. Annette flog zurück, ihre Lippen glühten, ihre Augen sagten mit einem Blick ihr ganzes Entsetzen über das, was sie gethan. Sie starrte Karl in’s Gesicht, und die Beiden standen sich in schrecklicher Verstörtheit gegenüber. „Annette!“ murmelte Karl fassungslos, legte sich die Hand vor die Stirn und horchte hinaus. Endlich, da es draußen still blieb, trat er an die Thür; „wer ist da?“ fragte er laut. Es kam keine Antwort Er faßte sich ein Herz, die Thür zu öffnen, indessen draußen auf dem Flur war nichts Lebendiges zu sehen. Er kam zurück; Annette, leichenblaß, fragte ihn mit den Augen. „Nichts,“ antwortete er und schüttelte den Kopf. „Ich glaubte da draußen etwas gehört zu haben, was - was in mir selbst war! – O Annette, wohin ist es mit uns gekommen! So sollte dieser Tag enden, an dem ich meine Ruhe wiederzufinden hoffte! – Fasse Dich, – nun ist ja Alles vorbei - Alles entschieden. Du wirst mich nicht wiedersehen, ich versuch’ es wieder draußen in der Welt, ein Vorwand wird sich ja finden. Sei stumm gegen ihn, Annette, laß ihm, – was er noch hat. Was hilft es, die Hände ringen, fasse Dich und vergieb mir!“

Er starrte sie mit Augen voll Verzweiflung an, es trieb ihn, vor ihr hinzustürzen, aber ein Rest von Besinnung hielt ihn zurück. Von der Thür her, die in die inneren Gemächer führte,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_561.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)