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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

neueingesetzte Große Rath von Bern, daß das Schloß von Burgdorf – über dessen Sicherung zu seinen Erziehungszwecken Pestalozzi in seiner Harmlosigkeit versäumt hatte, sich von der helvetischen Regierung die nöthigen gerichtlichen Bürgschaften, die man ihm damals nicht verweigert hätte, geben zu lassen – der Sitz eines Oberamtmanns werden sollte. Pestalozzi ward dadurch in die traurige Nothwendigkeit versetzt, die ihm so lieb gewordene Wiege seines neuaufblühenden Werkes zu verlassen.

Zunächst zog er nun im Jahre 1804 nach dem wenige Stunden entfernten ehemaligen Klostergebäude zu Münchenbuchsee, das er aber sammt dem größern Theil seiner Zöglinge alsbald an Wellenberg in Hofwyl überließ, um selbst eines der ihm von der Waadtländer Regierung angebotenen Schlösser, das alte Yverdon oder Iserten, am Südende des Neuenburger Sees, zum Sitze seiner pädagogischen Thätigkeit zu erwählen.

Düster freilich waren die Räume des von Karl dem Kühnen erbauten alten burgundischen Schlosses, Raben und Dohlen nisteten in den vier dicken Thürmen desselben, deren Mauern von dunkelgrünem Epheu dicht umsponnen waren. Kaum für das Unentbehrlichste war die neue Anstalt eingerichtet. Die zwei großen Schlafsäle für die Zöglinge waren nicht einmal gedielt. Besondere Zimmer für sich hatten die Lehrer nicht, sondern mußten den Tag über im Getümmel irgend einer Classe an ihren Stehpulten arbeiten. An dem alten Brunnen, der sich mitten im großen Schloßhof von alten Linden umgeben befand, wurden des Morgens im Sommer und Winter lange hölzerne Röhren gelegt, die rechts und links von der Reihe der Knaben umstanden wurden, damit sie sich mit dem durch einen Hahn zulaufenden Wasser den Rest der Schläfrigkeit aus den Augen wuschen.

Das Schloß zu Yverdon oder Jserten war also der Schauplatz, wo die bald wieder vereinigte Genossenschaft des Pestalozzi’schen Erziehungshauses im Sommer 1805 ihr neues Leben begann und in einer Reihe von Jahren fortsetzte, während welcher dieses Haus, bei eifrigster Thätigkeit und Regsamkeit im Innern, auch nach außen dem Anschein nach eine glänzende Blüthe zeigte. Es erhielt, namentlich auch durch die Empfehlungen Fichte’s in seinen Reden an die deutsche Nation, und Herbart’s, bald europäischen Ruf und ward von Zöglingen aus allen Ländern besucht. Von allen Weltgegenden her kamen Lehrjünger, die sich auf Monate oder Jahre, und zum Theil sehr angesehene Fremde, die sich tagelang dort aufhielten.

Als im Jahr 1814 der König von Preußen Friedrich Wilhelm der Dritte nach Neuchâtel kam, war Pestalozzi sehr krank. Dennoch mußte ihn einer seiner Schüler und späterer Unterlehrer, Ramsauer, zum König begleiten, damit er ihm danken könne für seinen Eifer um das Volksschulwesen, den dieser insbesondere durch die Sendung so vieler Eleven nach Yverdon bethätigte. Auf der Hinreise sank Pestalozzi mehrere Mal in Ohnmacht und mußte aus dem Wagen gehoben und in ein Haus gebracht werden. Da wollte ihn Ramsauer bewegen zurückzukehren, er aber erwiderte: „Nein, schweig’ davon! Ich muß den König sehen, und sollt’ ich auch darüber sterben. Wenn durch meine Gegenwart nur ein einziges Kind in Preußen einen bessern Unterricht empfängt, so bin ich reichlich belohnt.“

Freilich vernachlässigte Pestalozzi bei dieser edelsten Aufopferung nicht selten sein Haus und ward bei der vielen Aufmerksamkeit, die er Fremden widmete, gegen die Lehrer und Zöglinge der Anstalt oft zum Schuldner.

Mit dem Jahre 1810 begannen die schon längere Zeit im Stillen sich vorbereitenden Irr- und Wirrsale des Pestalozzi’schen Hauses zu Tage zu treten. Die Unordnung in der Führung der Hauswirthschaft, welche Pestalozzi zu bewältigen keine Fähigkeit und Kraft hatte, nahm überhand; unter den Lehrern der Anstalt herrschten Reibungen, Zerwürfnisse, gegenseitige Eifersucht, bis zuletzt eine Spaltung in zwei Heerlager eintrat und schließlich Streit und Erbitterung sich so steigerten, daß Pestalozzi sich 1825 genöthigt sah, seine Anstalt ganz aufzulösen, die hieraus von einem seiner Lehrer, dem früheren Pfarrer Riederer, neu begründet wurde, und sich als achtzigjähriger Greis zu seinem einzigen Enkel auf den Neuenhof zurückzuziehen, wo er sich mit Schriftstellerei beschäftigte, die Erzählung „Lienhard und Gertrud“ fortsetzte und vollendete und 1826 als dreizehnten Band seiner sämmtlichen Schriften seinen „Schwanengesang“ veröffentlichte. Derselbe enthält ein Gemisch von Klagen über das Mißlingen seiner Lebensbestrebungen und neben langen, einförmigen Erörterungen über seine Erziehungs- und Unterrichtsgrundsätze auch manches Richtige, Rührende und Ergreifende, wobei er den Kern seines Wirkens von der Schale zu sondern und sich des Bleibenden und Unvergänglichen in seinem Lebenswerke zu freuen weiß. Gleichzeitig erschien von ihm, aber nicht als Bestandtheil seiner sämmtlichen Schriften, sondern in anderem Verlage, ein Buch unter dem Titel: „Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsanstalt in Burgdorf und Iserten.“ Hier ist sein Blick getrübt, sein Herz erbittert und sein Urtheil über die Genossen seiner Unternehmung vielfach unbillig und ungerecht.

Mit Anfang des Jahres 1827 erkrankte Pestalozzi. Am 15. Februar theilte er dem Pfarrer Steiger zu Birr, wohin der Neuenhof gehörte, mündlich seine letzten Willenserklärungen mit und ließ sich dann nach Brugg fahren, wo er am 17. Februar starb. In Birr vor dem Schulhause ward er unter dem Geleite und Gesang der Lehrer von den umliegenden Dörfern und ihrer Schulkinder in die schneebedeckte Erde versenkt. Als später die Aargauer Regierung an der Stelle des alten Schulhauses ein neues aufführen ließ, wurde der Platz, wo Pestalozzi ruhte, mit einem Gitter eingefriedigt und dahinter die Hauptseite des neuen Schulhauses zum Denkmal Pestalozzi’s gestaltet, welches über dem Brustbilde desselben die Worte enthält: „Unserem Vater Pestalozzi.“

Im Jahre 1846 begingen Tausende von Lehrern und Erziehungsfreunden in allen Gegenden Deutschlands und der Schweiz das hundertjährige Geburtsfest Pestalozzi’s, als des Vaters der neuern Pädagogik, deren edle Früchte größtenteils aus dem von ihm gestreuten Samen erwuchsen und zum Gemeingute der Menschheit wurden. Die zahlreichen Pestalozzi-Stiftungen, die seitdem entstanden, zeugen von der dauernden Verehrung der Nachwelt gegen den großen Meister und Reformator auf dem Gebiete des Unterrichtes und der Erziehung.

Die bahnbrechenden Verdienste Pestalozzi’s, so wie der Umschwung, welchen er durch Lehre und Beispiel auf jenem Gebiete veranlaßte, können nur dann vollständig gewürdigt werden, wenn man die verkehrten Grundsätze und den grauenhaften Schlendrian der alten Schule mit seiner Methode und deren Leistungen vergleicht. Das damit auf’s Engste verwachsene innerste Wesen Pestalozzi’s, welches alle Schwächen und Fehler dieser großartigen Natur bei weitem überragt, zeichnet uns einer seiner langjährigen Freunde, der verstorbene Dr. Blochmann in Dresden, der acht Jahre als Lehrer an seiner Anstalt zu Yverdon verweilte und treffliche Züge aus dem Bilde seines Lebens und Wirkens uns überliefert hat, mit den treffenden Worten: „Ich habe wenig Menschen kennen gelernt, aus deren Lebensmitte ein so reicher Strom von Liebe floß, als aus seinem Herzen. Die Liebe war recht eigentlich sein Lebenselement, der unversiechbare göttliche Trieb, der von Jugend auf all’ seinem Streben und Wirken Richtung und Ziel gab. Mit dieser seiner Liebe, in ihrer Aufopferungskraft und Uneigennützigkeit, war in ihm ein hoher Grad von Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Demuth verbunden, und dieser letzteren stand in seinem Gemüthe ein Heldenmuth zur Seite, wie solcher in gleicher Kraft in keines Manschen Seele, der nicht demüthig ist, zur Erscheinung kommt.“

Das große Verdienst Pestalozzi’s besteht hauptsächlich darin, daß er „ein Grundgesetz für den Unterricht fand und es für die gesammte Erziehung ahnte; daß er zuerst, und er allein, eine Methode begründete, von welcher erst die eigentliche Wissenschaft des Unterrichts datirt.“ – Aller Unterricht gründet sich bei ihm auf Anschauung. Diese ist ihm die Grundlage aller Erkenntniß. Von ihr muß alle Lehre ausgehen und dahin wirken, daß das Kind jeden Gegenstand, der ihm zur Anschauung und durch diese zum Bewußtsein gebracht wird, als Einheit in’s Auge fasse, daß es die Form eines jeden Gegenstandes, d. h. sein Maß und sein Verhältniß, kennen lerne, daß es endlich mit dem ganzen Umfang der Worte und Namen aller von ihm erkannten Gegenstände vollständig vertraut werde. Diese seine Methode hat sich während des ersten Zeitraumes seiner erziehenden Wirksamkeit (in Staus) subjectiv ausgeprägt und in seiner Persönlichkeit concentrirt. Sein ganzes Sinnen und Streben war darauf gerichtet, die Segnungen der Wohnstube zu Segnungen der Schulstube zu machen. Im zweiten Zeitraume des Entwickelungsganges der Pestalozzi’schen Methode (Burgdorf, Yverdon) tritt die subjective Seite derselben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_567.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)