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mehr zurück und die objective bildet sich einseitig aus. Die Erziehung geht mehr in Unterricht über, die Bildung wird vorherrschend intellektuell. Von Haus aus ein Gegner des Katechismus, gerieth Pestalozzi, dem anfangs das Leben mit seinen frischen Eindrücken Alles galt und der das Bücherwesen beim Unterricht haßte, später in die auffallende Verirrung, den Unterricht mechanisieren zu wollen und auf die gedruckten Methodenbücher, Anschauungstabellen etc. den größten Werth zu legen.

Zwei Mangel sind es besonders, die Pestalozzi’s System anhaften. Einmal übersieht er, daß Zahl, Form, Wort die Urformen des Denkens nicht erschöpfen. Der Mensch hat auch Farbensinn, Ortssinn, Thatsachensinn und jedem dieser Sinne entsprechende Eigenschaften. Doch läßt sich dieser Mangel leicht beseitigen, weil der Geist der Pestalozzi’schen Methode auf die Behandlung aller Gegenstände ohne Schwierigkeit übertragen werden kann. Der andere, von Pestalozzi selbst gefühlte und ausgesprochene Mangel seines Systems bestand darin, daß er neben den Kenntnissen die Fertigkeiten, neben dem Wissen das Können nicht gehörig berücksichtigte. Aber die Fertigkeiten, von deren Besitz Können und Thun abhängt, geben sich ebenso wenig von selbst, wie Einsicht und Kenntniß. Auch sie müssen durch Uebung erwachsen, auch für sie muß ein A-B-C der Thätigkeit erfunden werden, das von den einfachsten Aeußerungen der physischen Kräfte, die ja die Grundlage aller menschlichen Fertigkeiten enthalten, ausgeht und so die Vorbedingung einstiger höchster Vollkommenheit zu Wege bringt. Hier nun trat Friedrich Fröbel ergänzend ein, indem er lehrte, zur Arbeit durch Arbeit, zur Thätigkeit durch Selbstthätigkeit zu erziehen. So schuf er die genetisch entwickelnde, überall an das praktische Leben anknüpfende Methode in seinen Spiel- und Beschäftigungscirkeln, seinen Kindergärten und Erziehungsgrundsätzen überhaupt. Wie auf dem Gebiete der Volksschule die Gedanken Pestalozzi’s in Diesterweg ihren namhaftesten Vertreter, Verbreiter und Fortbildner gefunden haben, so hat Fröbel Pestalozzi’s Ideen auf dem ihnen eigenthümlichen Gebiete des Hauses und der Kinderstube am glücklichsten vervollständigt und ergänzt. Die Aufgabe der Gegenwart aber ist es recht eigentlich: „den Waldboden zu schaffen, auf dem die in Haus, Kindergarten und Schule gezogenen Stecklinge die reichste, beste Nahrung finden, damit aus diesen Zöglingen Menschen werden, wie sie das Ideal der erziehlichen Bestrebungen Pestalozzi’s, Fröbel’s, Diesterweg’s, jenes großen Dreigestirns von Menschenbildnern, waren; Menschen,“ wie Wichard Lange sagt, „aus einem Guß, mit einer organischen Weltanschauung und einer einheitlichen, grundsatzgemäßen charaktervollen Wirksamkeit.“




Im Vorzimmer des Parlaments.

In unseren constitutionellen Zeiten haben die Vorzimmer der Könige Concurrenten bekommen. Auch in den Vorhallen der Räume, in denen die gesetzgebenden Versammlungen debattiren, finden sich Schwärme von Bittstellern und Ränkeschmieden ein. In den Vereinigten Staaten bilden diese Lobbyers – von lobby Vorhalle, so genannt – eine besondere Classe und genießen der Achtung, die wir den beharrlichen Supplicanten der Vorzimmer der Könige zollen. England hat ebenfalls seine Stammgäste des Parlamentsganges, doch sind sie interessanter und achtbarer als die Lobbyers von Washington.

Dieser Gang ist ein stattlicher Raum. Seine mit Eichenholz getäfelten Wände und Decke, seine gemalten Glasfenster, sein ausgelegter Fußboden, seine mächtigen Candelaber von Bronze geben ihm ein vornehmes und ernstes Aussehen. In einem Winkel steht ein Schenktisch, an dem die Mitglieder zur Sommerszeit sich mit Eis und Limonade abzukühlen und zur Winterszeit mit Sherry und Limonade zu erwärmen pflegen. Unter den verschiedenen Thüren zieht eine, von massivem Eichenholz und mit Eisen beschlagen, die Blicke besonders auf sich: sie führt in den Sitzungssaal. Es ist noch früh am Tage, aber der Gang hat sich schon hübsch gefüllt. Gruppen von Menschen erwarten die Ankunft der Parlamentsmitglieder, und alle Augen ruhen auf der Glasthür, durch welche die Ersehnten eintreten müssen. Hier steht eine Deputation eines frommen Vereins, die Herrn Newdegate, dem langjährigen Führer der strengkirchlichen Partei im Unterhause, irgend eine kirchliche Frage dringend an’s Herz legen will. Die ehrwürdigen Herren, aus denen sie besteht, sind mit Bittschriften beladen, und wie sie so auf einen Klumpen zusammengedrängt dastehen, lassen sie die Stelle, wo ihr Opfer sich zeigen muß, nicht einen Augenblick aus den Augen. Dicht neben ihnen steht ein glattrasirter Mann mit ascetischen Zügen und einem langen Rock, unverkennbar ein katholischer Priester. Er ist übrigens glücklicher als seine kirchlichen Rivalen, denn er hat bereits einen irischen Abgeordneten am Rockknopfe und setzt ihm die besondern Wünsche der Katholiken im Städtchen Ballyhoolau auseinander. Dort wartet ein lebenslustiger und rothbackiger Landjunker auf einen Freund, den Vertreter der Grafschaft, der ihm für die heutige Nacht ein Billet für die Galerie des Sprechers, oder vielleicht sogar einen der bevorzugten Plätze „unter der Glocke“ versprochen hat. Der bleiche junge Mann dort, der einen so auffallenden Contrast mit dem Squire bildet und sich durch seinen Anzug als einen Mann aus dein Volk verräth, ist durchaus nicht die unbedeutende Persönlichkeit, für die man ihn halten könnte. Wir werden gleich sehen, daß er mit den angesehensten Mitgliedern des Hauses auf dem Fuße der Gleichheit verkehrt, und es läßt sich fragen, ob es viele Namen von Abgeordneten giebt, die von einem Ende Englands bis zum andern so allgemein bekannt sind, wie der Name dieses jungen bleichen Mannes im schlichten Rock. Es ist Georg Potter, der Leiter der Handwerkervereine. Der ältliche Mann mit dem tief gefurchten Gesicht, der hinter ihm steht und mit einem Freunde von militärischer Haltung spricht, ist ebenfalls ein Führer des Volks, Beales. Sein Gefährte ist sein getreuer Schildknappe, Oberst Dickson, den die Arbeiter für einen der Londoner Wahlbezirke als Candidaten für die bevorstehenden Wahlen aufgestellt haben. Man wird den Parlamentsgang selten betreten können, ohne einem dieser Herren zu begegnen.

Jener schlanke, schöne Mann mit einer Camellie im Knopfloche, der so ausgesucht fein gekleidet ist und dem man es ansieht, wie sehr er mit sich selbst, der um ihn stehenden Gruppe von Zuhörern und der Welt im Allgemeinen zufrieden ist, gehört nicht zu den Ministern. Die meisten Engländer kennen seinen Namen nicht und nie begegnet man ihm in den Zeitungen. Aber auf jeder Bühne, auch auf der politischen, giebt es Leute hinter den Coulissen, die mindestens ebenso wichtig sind, wie die Schauspieler auf der offenen Scene. Eine allgemeine Wahl könnte ohne die Beihülfe dieses Mannes nicht durchgeführt werden und eine Ministerkrisis, mit der er nichts zu thun hätte, ist nicht denkbar. Was würde aus der „großen conservativen Partei“ werden, wenn er sich in’s Privatleben zurückzöge! Herr Spofforth ist ja der Agent der Conservativen, und man erzählt sich von seinem politischen Einfluß wunderbare Geschichten. Der Mann mit leicht jüdischen Zügen, der ihm so aufmerksam zuhört, ist kein Tory, vielmehr der Eigenthümer und Leiter einer großen liberalen Zeitung. Vermuthlich erwartet er, daß dem Agenten seiner Gegner einige Worte entfallen, die ihm Winke über das feindliche System bei den nahen Wahlen geben. Außer ihm sind Journalisten aller Art, Eigenthümer, Redacteure, Berichterstatter und Londoner Correspondenten gegenwärtig. Einige verweilen die halbe Nacht im Gange und sprechen mit Einem nach dem Andern, während Mancher auf einen einzigen bestimmten Abgeordneten lauert, auf ihn zuschießt, wenn derselbe erscheint, eine einzige Frage stellt und mit zufriedenem Gesicht davoneilt.

Fast ebenso zahlreich wie die Journalisten sind die Privatsecretäre. Manche stehen blos eine Stufe über dem Range des Kammerdieners, während andere die Söhne von Cabinetsministern sind und einst eine hohe Stellung einnehmen werden. Welche Unterstützung ist ein guter Privatsecretär für einen Staatsmann! Die Briefe, die er schreibt, die Bestellungen, die er ausführt, haben nicht sehr viel zu sagen, aber versteht er sein Fach und besitzt er Tact, so weiß er Zudringliche vom Cabinet des Ministers fern zu halten und den Abgewiesenen zufrieden zu stellen. Dort geht ein Privatsecretär mit einem Minister Arm in Arm und ein Schwarm von Bittstellern wartet schon, um sich ihm zu empfehlen, wenn der große Mann ihn verläßt. Es ist vielleicht kein schroffer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_568.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)