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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 38.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Süden und Norden.
Eine bairische Dorfgeschichte von 1866.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Der junge Mann stand noch einen Augenblick unschlüssig, ein flüchtiger Blick rückwärts überzeugte ihn, daß es keine Möglichkeit gab, den Weg, auf dem er gekommen, wieder zurückzuklettern; ein zweiter scheuer und noch rascherer Blick streifte in den Abgrund, der unter ihm wie eine Thurmmauer abstürzte, dunkel und tief, daß kein Ende davon abzusehen war; drüben aber lag und lockte der breite, grasbewachsene Block, und schon von Weitem war zu erkennen, daß ein betretener Pfad von dort gefahrlos weiter führe. Sich zusammenraffend, richtete er daher den Stock zurecht und nahm die Stellung eines Springenden an; allein in dem Augenblicke verirrten sich seine Augen unwillkürlich in die Schlucht unter ihm, er fühlte, wie es ihm im Gehirne zu kreisen begann und vor den Augen dunkelte.

„Na, was ist’s denn?“ rief Ambros wieder. „Wenn Sie herüber sind, ist alle Gefahr überstanden. Von da wird der Weg wieder gut, und wir kommen bald auf einen prächtigen Gamsstand. Springen Sie frisch zu, Herr Günther! Es passirt Ihnen nichts. Ich bin schon da und fang’ Ihnen auf, damit Sie nicht etwa zurückfallen. Ich glaub’ gar, Sie fürchten Ihnen.“

Günther fühlte sich allerdings sehr lebhaft von einer ähnlichen Empfindung durchzuckt. Er nahm nochmals einen Ansatz zum Sprunge, ließ aber wieder ab, und schon schwebte ihm wiederholt die Frage auf den Lippen, ob es nicht etwa doch einen anderen Weg gebe, aber der Gedanke, Furcht zu zeigen, scheuchte sie wieder zurück. In der krampfhaft festen Art, wie er den Bergstock anfaßte, zeigte sich jetzt, daß der Entschluß in ihm reifte; er blickte noch einmal zu Ambros hinüber, der eben den Hut abgenommen hatte, daß sein Gesicht deutlich zu sehen war … es kam ihm vor, als ob dasselbe von einem höhnischen Lächeln verzogen sei, und ohne sich weiter zu besinnen, schwebte er in der nächsten Secunde über dem Abgrund und langte wohlbehalten neben Ambros auf dem Felsblocke an. War er auch zögernd unternommen worden, so ließ der Sprung es doch wohl erkennen, daß es ein geübter Körper war, welcher ihn ausführte; ohne zu wanken, fest und aufrecht, stand Günther auf dem Felsen und bedurfte des haltenden Armes nicht, welchen ihm Ambros entgegenstreckte.

„Ich danke,“ sagte er, kurz ablehnend, und schritt sogleich auf dem deutlich erkennbaren Pfade vorwärts, während Ambros ihm verblüfft nachsah und erst nach einigen Augenblicken folgte. Als er um die Felsecke vorgetreten, hielt er an und deutete auf eine grüne Rasenstelle, welche zwischen dem Gestein recht angenehm zum Ausruhen einlud. „Wie ist’s, Herr Günther,“ sagte er, „wollen wir net ein bissel anhalten und ausrasten? Da wär’ ein ganz bequemer Sitz.“

„Habe kein Bedürfniß,“ entgegnete Günther. „Auch habe ich sagen hören, daß man bei großen Wanderungen es wohl unterlassen muß, auf kurze Zeit auszuruhen, weil dann die Müdigkeit immer ärger wird. Ich will mir das Ausruhen sparen, bis wir auf der Almhütte sind.“

„So?“ sagte Ambros, der den Unmuth seines Gefährten wohl herausfühlte. „Davon hab’ ich noch nie etwas g’spürt, es wird wohl auch nur in Ihren Büchern stehen. Ich will mich schon ein bissel dahersetzen, der Weg über die schieche Wand legt sich einem doch curios in die Glieder; da schmeckt ein Schluck Kirschgeist drauf.“ Er zog die Korbflasche aus dem Rucksack hervor und bot sie Günther. „Das ist echter, selbstgemachter,“ sagte er, „den werden Sie doch nicht verschmähen? Sie müssen ja an so ’was gewöhnt sein, bei Ihnen zu Haus in Preußen haben s’ ja gar nichts Anderes zu trinken, sagt unser Schullehrer.“

Der Jäger zuckte mit den Achseln und wies die Flasche zurück, welche Ambros sofort an den Mund setzte und bis auf einen kleinen Rest leerte. „Na, meinetwegen,“ sagte er, „mir kann’s recht sein, es thut halt Jeder nach seinem Brauch! Aber mir kommt’s vor, als wie wenn Sie a bissel harb war’n? Es verdrießt Ihnen wohl der schlechte Weg, den wir haben machen müssen? Aber Sie haben ja verlangt, daß ich Ihnen auf die Gamsjagd führen solle! Da hat man’s net am Schnürl, da muß man so ’was schon mit in den Kauf nehmen! Das kann Jedem g’scheh’n, daß er sich a mal versteigt, und die Gams haben halt auch ihren eigenen Brauch, daß sie zuhöchst droben in denen Steinfelsen logir’n und daß man sie net in der Ebnet’ mit der Schlafhaub’n todt werfen kann wie die Hasen.“

„Wie kommst Du darauf?“ erwiderte Günther. „Ich habe mich nicht beklagt und hab’ es auch nicht anders verlangt, obwohl es mich allerdings bedünken will, daß diese halsbrecherische Tour vielleicht nicht nöthig gewesen wäre, und daß Du Dir vielleicht nur den Spaß gemacht hast, meine Kraft und Ausdauer ein bißchen auf die Probe zu stellen.“

Er mußte ziemlich nahe an die Wahrheit gestreift haben, denn über das Antlitz des Burschen flog ein verräterisches Roth; weit entfernt aber, sich dadurch beirren zu lassen, rief er lachend

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 609. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_609.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)