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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und der rastlose Eifer, mit welchem er diese Anschauungen ergriff und für seine innere Auferbauung zu verwerthen suchte.[1] In seiner schönen Wohnung auf dem Corso zu Rom, dem Palast Rondanini gegenüber, hielt er sich vor der großen, besonders der vornehmen Welt in einer Art von Halb-Incognito verborgen, bewegte sich aber dafür um so freier und heiterer in einem Kreise von Künstlern und Kunstliebhabern, zu denen Hackert, Tischbein, Angelica Kaufmann und ihr Gemahl Antonio Zucchi, der sachsen-gothaische Hofrath Reiffenstein, einst Winckelmann’s vertrauter Freund, und viele Andere gehörten. Ueber seinen Kunstgenüssen war Goethe allerdings nicht blind für hervorragende Schönheiten der römischen Frauenwelt; besonders erregte eine junge Römerin, die unfern von ihm auf dem Corso wohnte, seine Aufmerksamkeit. Er pflegte, wenn sie Abends vor der Thür saß, sie im Vorübergehen zu grüßen, ohne jedoch ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Zu einem näheren Bekanntwerden kam es erst im Herbst 1787 bei einer Villeggiatur zu Castel Gandolfo, deren sich Goethe etwa vom 6. bis zum 24. October bei dem herrlichsten Wetter erfreute.

Er war dort mit Reiffenstein bei dem reichen englischen Kunsthändler Jenkins einquartiert. Nach und nach fand sich eine große Zahl von Gästen ein, unter Anderen Angelica Kaufmann mit ihrem Gemahl, auch – die schöne römische Nachbarin mit ihrer Mutter; und unter dieser ganzen Gesellschaft gestaltete sich sofort ein traulich geselliger Verkehr, wie in einem Badeorte. In der Morgenfrühe schweifte Goethe, damals wieder lebhaft für das Landschaftszeichnen schwärmend, in dem Gebirge umher und bemühte sich, die frappantesten Motive nachzuzeichnen. Nach der Rückkehr gehörte er für den übrigen Tag der Gesellschaft an, in welcher gemeinschaftliches Mittagsmahl, Spaziergänge, Lustpartieen, ernst- und scherzhafte Unterhaltung schnell Bekanntschaft und Vertraulichkeit hervorriefen. Die junge Römerin kam dem Dichter wie eine bereits Bekannte entgegen, und er versäumte seinerseits nichts, sich ihr gefällig und aufmerksam zu erweisen.

Es tritt, wenn man zwischen den Zeilen des vom Dichter selbst nur vorsichtig Mitgetheilten liest, der Gedanke nahe, daß das Zusammentreffen der beiden römischen Nachbarinnen mit ihm in Castel Gandolfo, wenigstens von Seiten der Mutter, nicht ganz absichtslos geschah. Wenn dem so war, so hatte sie die Unklugheit begangen, ihrer Tochter selbst eine gefährliche Rivalin zur Seite zu stellen. In ihrer Begleitung war nämlich auch eine schöne Mailänderin mitgekommen, Schwester eines Commis von Herrn Jenkins und mit der jungen Römerin nahe befreundet. Beide Schönen bildeten einen entschiedenen, wenn auch nicht schroffen Gegensatz: die Römerin von dunkelbraunem Haar, die Mailänderin von hellbraunem; jene braun von Gesichtsfarbe, diese klar, von zartem Teint; jene braunäugig, diese mit fast blauen Augen; jene etwas ernst und zurückhaltend, diese offener und zutraulicher.

Eine kurze Zeit hielten sich die beiden anziehenden Pole einander ziemlich das Gleichgewicht, aber bald brachte ein besonderer Anlaß unseren Dichter zum Bewußtsein, daß sich seine Neigung bereits für die Mailänderin entschieden hatte.

Goethe saß eines Abends bei einer Art Lottospiel zwischen den beiden jungen Damen und hatte mit der Römerin Casse zusammen gemacht. Im Laufe des Spiels fügte es sich, daß er auch mit der Mailänderin sein Glück durch Wetten versuchte, so daß auf dieser Seite gleichfalls eine Art von Partnerschaft entstand. Vertieft in die Lust der Unterhaltung, wie er war, bemerkte er nicht, daß diese Theilung seines Interesses Mißfallen erregte, bis nach aufgehobener Partie die Mutter der Römerin abseits zu ihm trat und ihn zwar höflich, aber mit Matronenernst in’s Gebet nahm. In einer Villeggiatur, belehrte sie ihn, sei es allgemeine Sitte, daß Personen, die sich näher aneinander geschlossen, der Gesellschaft gegenüber in diesem Verhältniß verharrten und für die ganze Saison die Rolle einer anmuthigen, besonderen Wechselgefälligkeit durchführten. Da er nun einmal mit ihrer Tochter in solche Beziehung gekommen sei, so schicke es sich nicht wohl, mit einer andern jungen Dame in gleiche Beziehung zu treten. Goethe war eifrig bemüht, sich zu entschuldigen; als ein Fremder, bemerkte er, habe er jene Sitte nicht gekannt, in Deutschland sei es vielmehr herkömmlich, sämmtlichen Damen der Gesellschaft, der einen mit und nach der anderen, sich dienstlich und höflich zu erweisen, und das habe ihm hier um so mehr am Platze gedünkt, als die beiden jungen Damen ja durch Freundschaft enge verbunden seien. Indem er so der älteren Dame gegenüber jede Vorliebe für die Mailänderin abzustreifen suchte, empfand er auf einmal mit der größten Bestimmtheit, daß diese ihn wirklich ganz erobert hatte; und um die Herzensfreiheit, die er bis dahin in Italien bewahrt hatte, war’s geschehen.

Goethe suchte am nächsten Morgen sogleich ihre Gesellschaft auf, und da sie im Laufe der Unterhaltung es beklagte, an der englischen Conversation von Herrn Jenkins, Madame Angelica und Andern nicht Theil nehmen zu können[WS 1], erbot er sich, ihr zur Erlernung des Englischen behülflich zu sein. Das war freilich eine Beschäftigung, die mindestens eben so geeignet war, die Liebe des Lehrers, als die Sprachkenntnisse seiner Schülerin zu fördern.

Die artistischen Morgenwanderungen wurden nun ausgesetzt, um möglichst früh mit der Geliebten zusammen sein zu können, und auch diese versäumte ihrerseits keine Gelegenheit, in der Nähe des Lehrers zu sein. Man hatte ihm an einem der nächsten Tage an der großen Mittagstafel den Platz rechts neben Angelica Kaufmann angewiesen. Eben als er diesen eingenommen, erschien seine Schülerin gegenüber am Tisch und besann sich keinen Augenblick, während die übrigen Tischgenossen sich um ihre Plätze becomplimentirten, um die Tafel herumzugehen und sich neben Goethe niederzulassen. Angelica bemerkte es mit Verwunderung und ahnte als eine scharfblickende Frau, daß mit ihrem bisher so frauenmeidenden Freunde etwas Besonderes müsse vorgegangen sein, wie sehr er sich auch Mühe gab, sein Gespräch zwischen den beiden Tischnachbarinnen gebührend zu theilen.

Leider sollte seine lebhafte Gemüthsbewegung noch an demselben Tage eine Steigerung schmerzlicher Art erfahren. Als er gegen Abend sich nach den jungen Damen umsah, fand er die älteren Frauen in einem Pavillon sitzend, wo sich die herrlichste der Aussichten darbot. Goethe schweifte mit seinen Blicken in die Runde und überzeugte sich, daß Amor als der höchste Landschaftsmaler erst einem solchen Bilde das Gepräge vollendeter Klarheit und Schönheit aufdrücke. Es hatte sich ein Ton, erzählt er selbst, über die Gegend gezogen, der weder dem Untergang der Sonne, noch den Düften des Abends allein zuzuschreiben war. Die glühende Beleuchtung der hohen Stellen, die kühlende blaue Beschattung der Tiefe war herrlicher, als sie ihm je in Oel oder Aquarell erschienen waren. Auf die Einladung der Damen an einem Fenster sich niederlassend, hörte er, in Beschauung der Landschaft und in Gedanken an die Geliebte vertieft, lange nur mit halbem Ohr einem Gespräch über Ausstattung einer Braut und die Eigenschaften des Bräutigams zu, und fragte zuletzt, wer denn die Braut sei. Da vernahm er, eben im Augenblick als die Sonne untertauchte, zu seiner höchsten Bestürzung, es sei Niemand anders, als seine Schülerin. Um seine Bewegung zu verbergen, verließ er augenblicklich die Gesellschaft, suchte ein einsames Plätzchen zur Bekämpfung seiner Schmerzen auf und sah sich nun in Italien abermals von den Wetzlarer Leiden bedroht.

Goethe will in den Berichten, die er in späterem Alter über diese Tage geschrieben, uns glauben machen, daß sich das Verhältniß in seinem Gemüth bald auf die anmuthigste Weise zurecht gelegt habe. Indem er gezwungen gewesen sei, die Geliebte nunmehr als Braut, als künftige Gattin anzusehen, habe sie sich vor seinem innern Blick aus dem trivialen Mädchenzustande in einen würdigeren erhoben, und in seinem Begegnen mit ihr habe sich fortan eine höhere, uneigennützige Zuneigung, mit Ehrfurcht verbunden, ausgesprochen. Es läßt sich aber in manchen Fällen nachweisen, wie Goethe in den aus spätern Jahren herrührenden Darstellungen früherer Herzensbeziehungen über Manches einen farbendämpfenden Schleier zu breiten liebte, oft vielleicht nur, um seinem weichen Gefühl schmerzliche Erinnerungen erträglicher zu

  1. Auf allen bedeutenderen Stationen seiner Lebensfahrt knüpfte Goethe ein neues Liebesverhältniß an und gewann jedes Mal eine neue Ausbeute erotischer Gedichte. Sein Aufenthalt in Italien (vom September 1786 bis in den April 1788) scheint hiervon eine Ausnahme zu bilden, da die gewöhnlich als Document und Frucht einer italienischen Liebe aufgefaßten römischen Elegien, wie Viehoff in seinem Leben Goethe’s näher nachgewiesen hat, auf deutschem Boden und unter dem Einfluß des Verhältnisses zu Christiane Vulpius entstanden sind. In der That ist der lyrische Ertrag seines Aufenthaltes in Italien nicht groß; doch zeugen zwei seiner kleineren Gedichte, durch Anmuth beide ausgezeichnet, von einer italienischen Liebe. Sie gewinnen erst volle Klarheit und zugleich ein höheres Interesse, wenn das vom Dichter nur bruchstücklich und zerstreut Angedeutete in näheren Zusammenhang gebracht wird. Ich mache den Versuch um so lieber, da dieses Herzensverhältniß an sich schon eine anziehende, bisher noch nicht genugsam aufgehellte Partie in dem Leben des großen Dichters bildet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Theil nehmen können
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_618.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)