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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

geheimen Seelenpunkte mit einander verknüpften Menschen erst schweigend durch eine Seitenstraße, bis sie in eine stille Gegend des schönen Stadtparks kamen, der sich bekanntlich wie ein frischer und blühender Kranz um die ehrwürdigen Straßen des altersgrauen Leipzigs windet. Hier unter den hohen Bäumen, die der milde Herbstwind noch nicht entblättert hatte, blieb Mendelssohn stehen und sagte: „Wie Sie vorhin bemerkten, mein Lieber, ist Ihre Heimath im Innern Rußlands, sehr fern von hier.“

„Allerdings, lieber Herr, in einer kleinen Stadt an einer der fernsten Grenzen des Reiches.“

,Und dort haben Sie von Mendelssohn gehört?“

„Nicht blos gehört von ihm, lieber Herr, schon in früher Jugend habe ich alle seine Schriften gelesen, die hebräischen und die deutschen, und mich in unserer dortigen Wüstenei mühsam an ihnen herangebildet. Mendelssohn’s Werke und die Werke seines großen Freundes Lessing hatte mein Großvater schon vor vielen Jahren aus Deutschland mitgebracht. Seitdem sind sie ein Erbstück unserer Familie geblieben, das wir bewahren und benutzen wie einen heiligen Schatz. Aber ich kann Ihnen noch mehr sagen, mein Herr; an dem Feste, das wir heute feiern, es ist unser Laubhüttenfest, hat einst mein Großvater in Gesellschaft Lessing’s als Gast am Tische des Weltweisen gesessen und ihn sagen hören: ‚Es kommt eine Zeit, und sie ist nicht so fern, als man glaubt, wo die Juden nicht mehr Fremde sein werden in ihrem Vaterlande. Das werden sie aber nicht von außen her erlangen, durch fürstliche Gnade und weltliche Gunst, sondern nur durch die Macht der fortschreitenden Bildung. Diese Macht der Bildung sehen wir jetzt leise wachsen und wenn sie einst stärker geworden sein wird, als alle Gewaltigen der Erde, werden auch die Juden schon durch ihre eigene Anstrengung lebendige und liebevoll sich anschließende Glieder der großen Volksfamilie geworden sein, mit der sie durch Geburt und Erziehung, durch Sprache und Sitte verwachsen sind.‘ Das hat Moses Mendelssohn damals an seinem Tische gesagt und seine Voraussagung hat sich für Deutschland bereits erfüllt. Die Deutschen jüdischen Stammes haben in ihrem Erlösungskampfe gesiegt, nicht durch Verleugnung ihrer väterlichen Religion und Sitte, nicht auf dem Wege der Gunst und der äußeren Gewalt, sondern durch den Geist der Bildung, der Veredlung und des arbeitsvollen Strebens, den vor kaum siebenzig Jahren ein kleines, verwachsenes Männlein durch sein Beispiel und seine Lehre in ihnen erweckt hat. Bei uns freilich sieht es in dieser Hinsicht noch schlimm aus und erst jetzt fängt es langsam an zu tagen, man liest wenigstens schon die hebräischen Schriften Mendelssohn’s und noch läßt sich nicht absehen, welche Veränderungen der Einfluß des jüdischen Reformators durch die zahlreichen Schüler, die er unter den russischen Juden gefunden, in der gesammten Welt des Ostens bewirken wird. In Deutschland ist man, wie ich höre, schon vielfach über den Standpunkt Mendelssohn’s hinausgewachsen. Für Rußland und Polen aber werden wir ihn jedenfalls noch eine hohe Bedeutung gewinnen sehen.“

Der Mann hatte diese lange Erklärung nicht so fließend, nicht ohne einen starken Anflug von polnisch-jüdischem Accent und wohl auch nicht ganz in denselben Worten, aber mit einer Wärme des Herzens und der Ueberzeugung gesprochen, die seinen Zuhörer mit ehrfurchtsvoller Achtung erfüllte. Wie er da im vollen Lichte des Mondes mit dem weißen, lang auf den schwarzen Kaftan herabwallenden Barte vor ihm stand, lag in seiner ganzen Erscheinung etwas Propheten- und Apostelhaftes. Auch der bleiche Knabe, der die Hand des Sprechenden ergriffen und sich kindlich an seinen Arm gelehnt hatte, schaute mit seinen stillen und tiefen Augen bewundernd zu ihm auf. Der Greis aber strich dem Enkel die Wange und fuhr fort: „Wenn Gott mich gelingen läßt, was ich mit diesem da vorhabe, wird er nicht blos glücklicher werden, als seine Väter waren, sondern auch vollenden helfen, was sie umsonst begonnen haben. Wenn er aus Deutschland als ein Mann zurückkehrt, wird er die Herzen schon geöffnet finden. Noch hängen sie mit fanatischer Strenge an dem Unwesentlichen, an all’ dem verwilderten Aberglauben, den Irrthümern und Mißbräuchen, die sich in den Jahrhunderten grausamer Verfolgung wie eine harte Kruste um den Kern unserer Religion gelegt und viele ihrer schönen und ehrwürdigen Gebräuche bis zur Häßlichkeit entstellt haben. Um diese Kruste allmählich zu erweichen, brauchen wir begeisterte Lehrer und ein solcher Lehrer, so denke und hoffe ich, soll dieses Kind hier werden. Darum habe ich ihm auch jetzt in Dessau das Stübchen gezeigt, in dem einst der dritte Moses seines Volkes geboren wurde.“

„Sie haben wirklich das Geburtshaus Mendelssohn’s besucht?“

„Unverändert steht es im Hofe eines kleinen Hauses noch auf derselben Stelle, wo es vor mehr als hundert Jahren gestanden hat. Als ich es betrat, fühlte ich ein tiefes Wehe in meinem Herzen und doch einen Stolz. Denn ein elendes Stübchen ist’s, lieber Herr, ein armselig Stübchen, wie es wohl selbst in jenen Zeiten nur die ärmsten Familien bewohnt haben können. Es muß aber ein hoher und himmlischer Glanz gewesen sein, der einst durch diese Behausung sorgenvoller Dürftigkeit geleuchtet hat; wie hätte sonst der schüchterne Sohn des von Noth und Elend gebeugten dessauischen Schreibers jener hohe und reine Charakter werden können, als den ihn die gesammte Mit- und Nachwelt gekannt und bewundert hat? Mag die große Welt, in die er mit dem vierzehnten Jahre getreten, seinen Geist geschult und sein Wissen bereichert haben, die Keime zu allen Tugenden seines Herzens, seine seltene Milde und Menschenfreundlichkeit hat er, bei dem damals völlig abgeschlossenen Leben der Juden, sicher nur aus dem engen Dunkel des jüdischen Elternhauses mitgebracht. Das Loos dieser gedrückten Menschen, denen man alle öffentlichen Schulen und Bildungsanstalten und eigentlich jeden ehrlichen Erwerb verschloß, war in jenen Tagen noch vielfach ein hartes, ein sehr hartes, lieber Herr!“

„Um so mehr ist es allerdings zu bewundern,“ entgegnete Felix mit anscheinender Ruhe, „daß sie bei so großem innerem und äußerem Drucke noch Charaktere, wie Mendelssohn, aus sich erzeugen konnten. Alle Berichte der Zeitgenossen rühmen seine hohe Tugend und Weisheit, den Zauber seiner Persönlichkeit. Nicht Wenigen ist er ein Vorbild geworden. Doch fiel es mir auf, daß Sie seinen Vater einen Schreiber nannten, in den Biographien heißt es, er sei ein Lehrer gewesen.“

„Es ist möglich, daß er auch unterrichtet hat, aber seinem eigentlichen Berufe nach war er ein Schreiber. Man weiß sonst überhaupt wenig von dem Manne, obwohl er der Vater und Erzieher eines berühmten Mannes, der Ahnherr einer so ausgezeichneten Familie gewesen, ist nicht einmal seine Abstammung bekannt und sein Grab nicht mehr aufzufinden. Aber ein Schreiber war er, das steht fest, und ein in der Gemeinde wegen seines stillen und makellosen Wandels sehr hochgeachteter Mann. Wissen Sie, was ein Schreiber ist? Es waren dies früher die einzigen Künstler unter den Juden. Auf Pergament schrieben sie die großen Thorahrollen und häufig auch die Gebetbücher, welche bei unserem öffentlichen Gottesdienste benutzt werden. Finden Sie einmal Gelegenheit, in einer Synagoge oder Bibliothek ein solches zuweilen auch mit farbigen Anfangsbuchstaben und Miniaturbildern geschmücktes Werk zu betrachten, so werden Sie inne werden, daß zu dieser Arbeit nicht blos wissenschaftliche Kenntniß und eine Art künstlerischer Fertigkeit, sondern auch Geschmack, Schönheitssinn und vor Allem jene unbeschreibliche Geduld gehörte, wie sie nur fromme Begeisterung den Menschen früherer Zeiten verliehen hat. Ich erwähne den Umstand, weil er nicht unwichtig ist. Sollte von einer solchen künstlerischen Thätigkeit nicht auch etwas in die Denkungsart und die Sitten Mendel’s übergeflossen sein und auch in die Seele seines Kindes schon frühe jenen Sinn für das Feine und Geordnete, das Anmuthige und Schöne gepflanzt haben, der später ein so wirkungsreicher Grundzug seines Wesens geblieben ist? Wie oft mag der arme Vater noch in später Nacht bei düster brennender Lampe in seinem erbärmlichen Zimmer gesessen und mit erhobenem Gemüthe, betend zugleich und schreibend, den Urtext jener Psalmen auf Pergament gezeichnet haben, die später sein Sohn in’s Deutsche übertragen …“

„Und sein Urenkel in Musik gesetzt hat,“ wollte Mendelssohn den Mann unterbrechen. Er verschluckte aber jede derartige Bemerkung und sagte nur: „Es ist eine weite Gedankenreihe, die Sie mir da eröffnen, und sie erregt mich tiefer, als Sie vielleicht glauben. Aber mir liegt noch eine Frage auf dem Herzen: Sie glauben also wirklich, daß das seit Mendelssohn wiederum in eine Bewegung gerathene Judenthum in den europäischen Ländern noch eine Zukunft habe?“

„Ich glaube es mit Tausenden und abermals Tausenden meiner Brüder und Schwestern, die heute mit mir unser fröhliches Laubhüttenfest feiern, wie mit Unzähligen, die es nicht mehr feiern.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_630.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)