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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Villa steht, die Chopin eben bewohnt, ist die Insel Majorca im mittelländischen Meere. Palmen, untere denen nun einmal Niemand ungestraft wandelt, ragen stolz in die Luft, üppige Blüthenranken schlingen sich um die Säulen der Veranda, Blumen in den brennendsten Farben duften auf den Beeten, ein Gewirr von Riesenblättern bildet ein natürliches Laubendach. Der Himmel ist von den zerflatternden Schleiern eines vorübergezogenen Gewitters bedeckt, aber große Tropfen, wie unaufhaltsame Thränen, fallen nieder. Der Musiker ist allein. Im Zimmer herrscht süße Dämmerung; eine mattleuchtende Ampel hängt von der Decke herab. Von der Wand herüber schimmert eine gelbseidene Ottomane, auf dem Marmortische steht eine Schale mit Blumen und Ranken, die weit herabhängen, Tabourets in allen Ecken, zwischen Fenster und Flügel ein Schreibtisch, bedeckt mit Büchern und Papieren, ein Flacon dazwischen, darüber hingeworfen ein Battisttuch mit Spitzen besetzt. Vor dem etwas zurückgeschobenen Sessel liegt ein Sammetkissen und darauf stehen zwei kleine türkische Pantoffeln. Frauen- oder Kinderfüße haben sie abgestreift, diese zierlichen rothen, mit Goldfäden und Perlen gestickten Gehäuse. An den Wänden hängen Ansichten von Venedig, Portraitskizzen und Zeichnungen bunt durcheinander, über dem Flügel aber ein Aquarell: der Profilkopf einer Frau mit dunkelm Haar und Augen, die das Zimmer mit seltsamem Licht zu erfüllen scheinen.

Der einsame Spieler warf dann und wann einen Blick auf jenes Bild, das, vom Lichte der Ampel getroffen, zu leben und zu athmen schien, dann wieder neigte er sich und schaute, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen, hinaus in die verschleierte Landschaft, die der Nacht entgegenträumte, und lauschte dem langsamen Tropfenfall. Es schien ihn zu quälen, dies eintönige Geräusch, eine Wolke lag auf seiner Stirn und die feinen Lippen zuckten. Ob er es wohl übertäuben wollte mit den mächtigen Klängen des F-moll-Concertes, der schönen Gräfin Potocka gewidmet, die jetzt über die Tasten rauschten? Der letzte Satz war es, der jetzt auftrat in seiner stolzen und melancholischen Schönheit.

Wie ganz anders, wie seltsam verwandelt klang heute das Spiel Chopin’s im Vergleich zu jenem Abend im Salon des Fürsten Radziwill, als die reizende Mädchengestalt der jungen Prinzessin neben ihm am Flügel stand! Damals war es schmerzliche Träumerei, ein Gewebe von Sehnsucht und Hoffnung, Wünschen und Verlangen, jetzt war die Erfüllung da, jeder Ton sagte es klar. Jenes wunderbare „Glück ohne Ruh“ war eingezogen in das leidenschaftlichste aller Herzen.

Fréderic Chopin stand damals vielleicht noch nicht auf der Höhe seines Ruhmes, obgleich Paris ihn anbetete und die Augen des musikalischen Deutschlands sich bereits bewundernd auf ihn richteten, aber er stand auf der Höhe seines Glückes. George Sand, die genialste Frau, hatte ihn nach Majorca begleitet, um selber die Genesung des so schwer erkrankten, von den französischen Aerzten aufgegebenen Freundes zu überwachen. Und er genas auch unter diesem Himmel oder – unter diesen Augen, die Liebe vollbrachte wieder eines ihrer stillen ewigen Wunder, der Todgeweihte wurde dem Leben erhalten, der Kranke erholte sich schneller, als sein geliebter Dämon es zu hoffen gewagt. Sie durften ja Beide ein Traumleben führen, wie es schöner nicht gedacht zu werden vermag – ein märchenhaftes Dasein, fern von einer lärmenden und kalten Welt, auf einer seligen Insel, wo Liebe, Musik und Poesie ihre Schleier um die Glücklichen webten, und die ideale Natur Chopin’s glaubte trotz Allem, was er in so früher Jugend gesehen, an eine Ewigkeit dieser berauschenden Seligkeit, denn

„– das Ende würde Verzweiflung sein!
Nein – kein Ende – kein Ende!“

Und während er noch dahin fuhr auf jenem goldenen Strome

„von dem Glanze selig blind!“

schlug eine schöne unruhige Frauenhand schon das Buch für immer zu, das den Titel trug: „Zwei Glückliche auf Majorca“. Ach, sie setzte schon die Feder an, um ein neues zu beginnen: „Die Rückkehr nach Paris“. George Sand sehnte sich zurück in jene bewegte Welt, die sie vor wenig Monden um des Freundes willen verlassen, und während er noch seine süßesten Träume träumte, war sie längst erwacht und sann darüber nach, wie sie es ihm sagen wolle, das grausame Wort: „Wir müssen heimkehren – oder scheiden!“

Noch immer fielen draußen die Tropfen, noch immer war die Geliebte nicht heimgekehrt von ihrem Spaziergange, regelmäßige Streifzüge, auf denen er sie ja, seiner Schwäche wegen, nie begleiten durfte. So lange hatte sie ihn noch nicht allein gelassen! Es war so todeseinsam um ihn her und wie Todesfurcht legte es sich auf seine kranke Brust. Geisterhaft schaute das Bild auf ihn nieder. Und der Gedanke stand auf: „Wie wenn sie stürbe und ihn auf einmal verließe – wie wenn sie nie wiederkehrte?“ Seine schmerzliche Wehmuth löste sich in Thränen, die Thränen wurden zu Tönen, die Finger Chopin’s berührten die Tasten, die bleiche Stirn senkte sich tiefer und tiefer: das wunderbare Präludium in Dēs-dur entstand in jener Stunde, mit seinen niedertropfenden Ges und As.

Er hörte nicht, der Träumer, wie sich Schritte nahten, wie die Thür geöffnet wurde und sie auf der Schwelle erschien, die Heißersehnte, um die er ahnungsvoll schon jetzt weinte, wie sie leise zum Flügel schlich, das schöne, üppige Weib, eine Blüthenranke durch das Haar gewunden, im leichten weißen Kleide mit dem Goldgürtel, in dem ein kleiner Dolch blitzte, Blumen in den Händen, den breitgeränderten Strohhut am Arme, helle Tropfen in den Locken. Sie war gekommen mit dem festen Entschluß ihm zu sagen: „laß uns eilig heimkehren, ich ertrage diese Luft und diese Ruhe nicht länger.“ Und noch Vieles war es, so Vieles, was sie ihm sagen wollte! Und nun stand sie wie gebannt plötzlich diesen Klängen gegenüber, und mußte zuhören, wie er um sie weinte, und glühenden Tropfen gleich fiel ihr Ton um Ton auf’s Herz. Und als der letzte verhallt war, da ließ sie die Blumen aus ihren Händen auf die Tasten fallen, schlang die Arme um den Freund und flüsterte halb lachend, halb seufzend: „Freund, armer Freund, ich habe Dich zu lange allein gelassen und nun siehst Du Gespenster! Verzeihe mir!“

Wo war das Dunkel nun geblieben, wo die Todesfurcht und die Thränen? In rosigem Licht schwamm ja das strahlende, geistvolle Angesicht der geliebten Frau vor seinen Blicken und ihre Lippen hauchten berauschende Worte in sein Ohr.

Draußen fielen noch die Tropfen, wer achtete länger darauf? Die kleinen Frauenfüße ruhten wieder in den goldgestickten Schuhen, und die üppige Gestalt auf den Polstern der Ottomane; Fréderic Chopin aber saß neben seiner Scheherazade und bat leise: „nun erzähle Du mir eine Geschichte und geh nicht wieder von mir!“




Wer sähe sie nicht auftauchen und vorüberschweben in den verschiedenen Schöpfungen Chopin’s, jene Frauengestalten, die für sein Herz und Leben bedeutungsvoll geworden? Wie sie verführerisch lächeln und im Tanze sorglos dahinfliegen, jene reizenden Polinnen aus dem Salon der Fürstin Czartoriska und dem Schlosse Willanow! Wie Fieber zuckt und glüht es in jedem Tacte seiner Mazurken, Walzer und Polonaisen. Aus dem Adagio des Concerts schauen uns die dunkeln Augen der Gräfin Potocka an, die wunderschönen Rahmen der Notturnos umschließen das Engelsgesicht der Prinzessin Elise, und in seinen Balladen erscheint manch anderer bezaubernder Frauenkopf ohne Namen. In jenem B-moll-Scherzo aber, diesem Byron’schen Gedicht in Tönen, mit seinem wilden Jubel und verzweifelnden Weh grüßt sie herüber, jene gefährliche, hinreißende Frau, die ihn „im Dunkeln allein gelassen“ – aber länger als an jenem Abend auf Majorca, und um die er geweint in seinem Des-dur-Präludium und – bis zu seinem Tode.

E. P.




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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_634.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)