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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

verschmähte nun seinerseits nicht nur allen fürstlichen Glanz, sondern auch jeden Gedanken daran, der Trauernden, die nun in seinem Schlosse die Thränen der Verwaisung vergoß, nur im Geringsten wehe zu thun. Er überließ der Wittwe seines brüderlichen Vorgängers die prachtvollen Räume, die gesammte Dienerschaft und all’ jene Dinge, die einst mit ausschlaggebend bei ihrer Gattenwahl gewesen und ihr nun zur unentbehrlichen Gewohnheit geworden sein mochten. Vom ganzen Schloß behielt er nur ein Parterrezimmer zu etwaigen Audienzen sich zur Verfügung. Er selbst bezog die kleine Mansarde des Orangeriegebäudes, das im alterthümlichen Schloßgarten, nur wenige Schritte vom Schlosse entfernt, aber völlig von demselben abgeschnitten, hinter hohen Buchen- und Taxushecken, hinter Buchsbaumpyramiden, umschattet von breitästigen Platanen, in grüner, undurchdringlicher Verschanzung der Art daliegt, daß man selbst im Winter nur vom Mittelpunkt des Hauptweges vor dem Schlosse etliche Fenster dieses versteckten Häuschens entdeckt.

In dieser erwählten Abgeschiedenheit, in einer Umgebung, die an Schlichtheit ihres Gleichen sucht, lebte der regierende Landgraf Ferdinand von Hessen-Homburg. Einfacheres, als jene kleine mit Holz umkleidete Mansarde, ist in Wahrheit nicht leicht anzutreffen, und eine gleiche, so völlig schmucklose Zimmereinrichtung, wie sie dem letzten deutschen Landgrafen genügte, ist heut zu Tage schwerlich noch in einem deutschen Bürgerhause zu finden. Mir ist das kleine Asyl im Grünen, so oft ich’s auch gesehen, immer als wie in ein Märchen gehörig erschienen. Als ich aber bald nach Landgraf Ferdinand’s Tode in seiner einfachen Wohnung selbst war, wo Alles noch so stand und lag, wie er es verlassen hatte, da verwandelte sich der frühere Eindruck von Poesie, von absonderlichem Geschmack in eine unsagbar traurige Empfindung.

Schloß Homburg ist nicht nur bezaubernd durch seine Lage und wundervolle Umgebung, durch jenen Blick in eine weite blühende Landschaft, in unbegrenzte blaue Ferne oder durch seine Aussichtspunkte auf des nahen Gebirges dicht bewaldete Höhen; es war bis zu der Zeit, wo es vor zwei Jahren in preußische Hand kam, die innere Ausstattung aber als Erb- und Eigenthum theils an Hessen-Darmstadt, theils an die jüngste Tochter der letzten Landgräfin, die Fürstin von Reuß fiel, und diese Erben des Hauses weite Räume leerten, bis dahin war das Homburger Schloß durch seine schöne und alterthümliche Einrichtung sicherlich eins der interessantesten und reichhaltigsten Denkmale früherer Zeiten und dahingegangener Geschlechter; es war so zu sagen ein Schatzkästchen an alten Traditionen, Sagen und Geschichten. An den Wänden der Säle und Stuben Hunderte von Bildern: Familienportraits aus allen Generationen und den verschiedensten Epochen ihres Lebens, oft anreihend an außergewöhnliche Schicksale und Begebenheiten; auch Gemälde Derer, die ihnen verwandt und befreundet gewesen und unter welchen man die interessantesten Köpfe, die fesselndsten Physiognomien fand. Ebenso reich waren vertreten Familienreliquien, Erinnerungen an bedeutende Personen und Ereignisse. Die einstmaligen Wohngemächer der Hauptpersonen des regierenden Geschlechts waren noch vielfach so erhalten, wie sie gewesen, als die Besitzer daraus geschieden. Es trat in den Räumen überhaupt eine Pietät und Rücksicht an den Tag, wie man sie selten mehr findet und die auf jene bereits berührte, innige Liebe schließen ließ, welche die Glieder dieses Fürstenhauses immer eng verbunden hat, ob sie nun gemeinsam auf der heimathlichen Scholle lebten oder weit durch alle Welt zerstreut gewesen sind.

Und gegen diesen ihm so lieben, durch tausend Erinnerungen geweihten und geheiligten Ort tauschte Landgraf Ferdinand die kleine kahle Mansarde ein, gegen jene weite wundervolle Fernsicht von der Höhe das engumschlossene Gebiet im Grünen sammt seinem einzigen, so melancholischen Aussichtspunkte. Dieser weiteste, dem Auge einzig erreichbare Punkt ist das nahe Bassin, inmitten der Allee vor dem Schlosse, die zur Stadt führt. Umkränzt von den prachtvollsten Bäumen liegt’s zwar da, auf ziemlich weitem Platze, denn breite Wege münden nach allen Seiten. Dennoch macht’s, umhüllt von all den tiefen Baumesschatten, einen traurigen Eindruck, ganz unwillkürlich regt sich der Gedanke an ein verfehltes Menschenleben, dem alle Wege zum Glücke offen gestanden und das vermöge eines finstern Verhängnisses im trüben Dunkel einförmig abgegrenzten Kreises blieb. Und was, betrachtet man dies Bassin länger, einem geradezu den Athem benimmt und die Seele bedrückt, das ist jener von Minute zu Minute sich wiederholende, langsam und schwer auf die Wasserfläche niederfallende Strahl, mit seinem eintönigen Geräusch – das sind jene bis zum steinernen Rande sich dehnenden Kreise, die fort und fort den Eindruck machen, wie wenn sie hinaus wollten über diese starre Grenze und doch, wenn sie dieselbe erreicht haben, stille zurückweichen wie ein vom Hoffen entmuthigtes Herz aus den Gebieten unerfüllten Strebens und Verlangens.

So war die Aussicht, die Deutschlands letzter Landgraf durch volle achtzehn Jahre aus dem Wohnzimmer seines Hauses hatte. Er muß sie geliebt haben, denn der Stuhl an seinem Schreibtische stand stets so, daß, sah er empor, er immer nur dieses kleine Bild vor Augen hatte. Ein schlichterer Schreibtisch, als jener des Landgrafen Ferdinand inmitten der niedrigen Stube, ist kaum denkbar; gleich schmucklos sind alle übrigen Möbel, so einfach, daß man fast mit Staunen auf den blumenreichen Teppich blickt, der dort den Boden deckt, auf dem aber wiederum, fast wie um den einzigen Luxus abzuschwächen, ein hölzerner Fußschemel steht, dessen Ursprung auf „altes Rosinenkistchen vom Boden des Homburger Schlosses“ lautet.

An den Wänden des Wohnzimmers eine Ansicht von Wien und Landkarten, in der Schlafstube, die gleich einfach eingerichtet ist, aber ein Gemälde: das Bild der jüngsten Schwester des Landgrafen Ferdinand, seiner Lieblingsschwester, der verstorbenen Prinzeß Wilhelm von Preußen, Mutter der Königin-Wittwe Marie von Baiern, und des preußischen Seeadmirals, Prinzen Adalbert von Preußen.

Dem Schlafzimmer gegenüber stößt an die andere Seite des Wohngemaches ein Stübchen, zur Hälfte angefüllt mit Büchern. Eine ganz stattliche Bibliothek für einen ehemaligen Obrist eines Kürassierregiments und späteren Feldzeugmeister, die dem denkenden Geiste manche Andeutung liefert. Sie ist nicht weniger interessant durch jene Bücher, welche den Geschmack des einstmaligen Bewohners der Mansarde verrathen und weit hinausgehen über die landüblichen Ansprüche des gewöhnlichen Kriegsmanns. Das Interessanteste in dem Raume ist eine Kleinigkeit. Er ist dunkel durch die geschlossenen Jalousien, und entsinnen wir uns, die Fenster stets nur also verwahrt gesehen zu haben, so erscheint dieser Umstand doppelt seltsam in einer Bibliothek. Und warum wurden sie nie geöffnet? Vögelchen hatten sich auf den Fensterrahmen ihre Nestchen gebaut, und Landgraf Ferdinand, der Held der Freiheitskriege, der Sprosse des Heldenstammes Hessen-Homburg, dieser Fürst, der unvermählt geblieben, schützte Jahr um Jahr die kleine Heimathstätte zweier Schwalben.

Dreizehn Jahre lebten noch die beiden Getrennten, die Landgräfin-Wittwe und der regierende Landgraf, sie in den alten Prachträumen, völlig abgeschlossen von Welt und Menschen, er, mit einem einzigen, alten, treuen Diener, als Einsiedler in seiner Mansarde, nebeneinander. Dann, im Jahre 1861, stieg Louise in die Gruft. Das Schloß stand nun ganz vereinsamt, denn Ferdinand blieb seiner Mansarde treu.

War der Landgraf auch, als Fürst, stets bereit, Jeden zu sprechen, der Etwas von ihm wünschte oder verlangte, und half er, wo er konnte, stets in aufopferndster Weise, so konnten dagegen Homburgs Bewohner sich nie rühmen, ihren Landesfürsten je am glänzenden Curplatz gesehen zu haben oder in dem neueren Theile der Stadt, wo die verschiedensten Nationen sich zusammenfanden und Luxus und Mode ebenso stark vertreten sind, wie die schlimmsten Leidenschaften. Ebensowenig betrat der Landgraf die Straßen seiner Residenz; nur in tiefster Bergeseinsamkeit oder auch in den entlegensten Partien des wundervollen, aber völlig unbesuchten Schloßparks konnte man ihm begegnen. Er liebte die Jagd und weite Spaziergänge. Wer ihn da auf einsamen Pfaden fand, durch Zufall sprach, vielleicht ohne zu ahnen, daß er dem Einsiedler aus der Mansarde gegenüberstehe, dem fiel gewiß sein ernstes charaktervolles Antlitz auf, und wer’s erfuhr, mit wem er gesprochen, sah durch dies Begegnen, durch sein mildes, ruhiges und freundliches Wesen sicher auf’s Glänzendste die Urtheile über ihn widerlegt, die seinem abgegrenzten Leben entsprossen waren und auf „Menschenhaß und Weltverachtung“ lauteten. Denn wie sturmvoll auch einst das Leben des Landgrafen Ferdinand gewesen sein möge, als der Traum seiner Jugend keine Erfüllung gefunden, in seinem Alter bot seine Erscheinung einzig den Eindruck des Friedens, sie paßte in den kleinen Rahmen seiner abgegrenzten Einsiedelei, in jene stille Welt, die ihm genügte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_648.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)