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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


Landgraf Ferdinand erreichte das hohe Alter von dreiundachtzig Jahren in vollkommener Gesundheit; er starb sanft und schmerzlos nach nur wenigen Krankheitstagen am 24. März 1866. Im Frühling desselben Jahres, wo Landgraf Ferdinand starb und beigesetzt wurde, durchtönte schon Kriegslärm die Welt: jene beiden Reiche, unter deren Fahnen die letzten sechs Prinzen des Hauses Homburg vereint für deutsches Recht und deutsche Freiheit gefochten, rüsteten sich als Feinde gegeneinander. Zum letzten Male fiel, vor dem Ausbruch des Krieges, in jener Nacht der Beisetzung im alten Homburger Schlosse der Flammenschein der Fackeln auf die in brüderlicher Handlung sich einenden Oesterreicher und Preußen; dort die weißen Reitermäntel der Oesterreicher mit Purpur überfluthend, hier auf die dunkeln Uniformen der Preußen seine hellen Lichtreflexe werfend.

Und als unter dem Läuten der Glocken, dem Donner der Geschütze dieser Letzte seines Hauses zu seinen Ahnen gebettet wurde, wie seltsam berührte es da Jeden, daß sein Sarg den letzten Raum in der Fürstengruft einnahm: man kann fortan nur noch durch die Thür in die Gruft hineinschauen, Niemand mehr hineingehen! Das Geschlecht ist zu Ende – die Gruft ist gefüllt. Und das Jahr 1866 hat sie für immer versiegelt!

M. v. H.


Eine kleine Republik in der Ostsee.
Reiseskizze von Friedrich Pilzer.

Vorstehende Überschrift wird selbst den in der Geographie bewanderten Leser in Erstaunen setzen. Trotzdem hat es mit ihr seine Richtigkeit. Fünfzehn Meilen nordwestlich von Riga, ziemlich in der Mitte des weiten Beckens des Rigaischen Meerbusens liegt, von den blauen Wogen umspült, eine kleine Insel, so klein und so umgeben von gefährlichen Untiefen, daß von jeher alle Seefahrer es vorgezogen haben, daselbst keinen Besuch abzustatten, es sei denn, daß es der höchst unfreiwillige einer Strandung gewesen wäre. Es ist dieses die kaum eine halbe Quadratmeile große Insel Runoe. Wenn Runoe auch zu dem Ländergebiete Seiner Majestät des Kaisers aller Reußen gehört und seine Bewohner auch als russische Unterthanen steuer- und militärpflichtig sind, so bestehen sämmtliche gouvernementalen Beziehungen zwischen ihnen und der russischen Regierung doch fast einzig und allein darin, daß sie alljährlich einmal der nächsten ihnen vorgesetzten Kronbehörde zu Arensburg auf der Insel Oesel eine gewisse Steuer und eine bestimmte Summe an Stelle eines Rekruten schicken. In allen übrigen gouvernementalen und socialen Angelegenheiten sind sie ganz und gar sich und ihren alten republikanischen Einrichtungen und Gesetzen überlassen. Die selbst für Seeleute so schwierige Zugänglichkeit der Insel macht es der Regierung und ihren Organen wünschenswerth, mit dem überaus charakteristischen und bei allen tüchtigen Eigenschaften bis zur Halsstarrigkeit selbstständigen Völkchen so wenig als möglich zu thun zu haben. Unter den so verschiedenartigen Ostsee-Nationalitäten besitzen die Runoer ohne Zweifel die auffallendsten Eigenthümlichkeiten. Sie würden einem Culturhistoriker prächtigen Stoff liefern.

Da es auch hier, in Riga, nur wenige Seeleute giebt, welche eine Fahrt nach Runoe unternehmen, so begrüßte ich den Entschluß eines hiesigen Capitäns, eine solche zu arrangiren, auf das Freudigste. Seiner erprobten Erfahrung in den Launen und Wandelbarkeiten der Ostsee durfte man sich sorglos anvertrauen. An einem herrlichen Sonntag Morgens trat das Dampfboot „Fellin“ mit circa hundert Passagieren von Riga aus seine kleine Expedition nach der Insel Runoe an und erreichte sie nach kurzer und ruhiger Fahrt. Um sicher und bequem vor Anker gehen zu können, mußte das Schiff des bedenklichen Fahrwassers wegen fast um die ganze Insel herumfahren und konnte sich derselben auch dann nicht mehr als auf etwa einviertelstündige Entfernung nähern, welche Strecke wir auf Böten zurücklegen mußten. Einige von unserem Schiffe abgefeuerte Kanonenschüsse gaben den Runoern die erste Nachricht von dem ihnen zugedachten Besuche.

Als unser Schiff vor Anker ging, war es am Ufer leer und still. Der dichte dunkle Wald, der sich hinter den flachen sandigen Dünen circa vierhundert Schritte weit vom Ufer erhebt, ließ in der Windstille seine hohen Wipfel starr und schweigsam emporragen. Die ganze Insel schien einsam und verlassen. Doch etwa eine halbe Stunde nach dem ersten Kanonenschuß zeigten sich am Saume des Waldes hohe prächtige Männergestalten, deren Zahl fort und fort zunahm. Bald gesellten sich zu ihnen auch Frauen und Kinder. Alsdann sahen wir, wie sich von den Andern ungefähr zwölf Männer trennten, welche, indem sie ziemlich lebhaft gesticulirten, etwas zu berathen schienen und darauf eilig im Dickicht des Waldes verschwanden. Wir waren auf ihre Absichten in der That neugierig geworden. Einer aus unserer Gesellschaft meinte scherzend: „Sie werden wohl ihre Flinten holen.“ Doch sie hatten bei Weitem friedlichere Absichten; denn man sah sie alsbald mit Böten um einen Vorsprung der Insel herum- und auf unser Schiff zukommen, um bei dem Uebersetzen behülflich zu sein.

Während dies geschah, schritten die Männer, welche am Waldessaum geblieben waren, mit ihren Knaben zum Ufer herab; die Frauen und Mädchen blieben oben. Der Eindruck, den Gestalten, Haltung und Gang der Männer und Knaben schon jetzt auf uns machten, war, da wir eben nur eine von aller Civilisation und günstigen Cultureinwirkung abgeschlossene dürftige Fischerinsel vor uns zu haben glaubten, ein recht romantischer. Da war nichts von dumpfer Blödigkeit oder gedrücktem Leben zu bemerken. Die einfache, aber kleidsame Tracht – breitkrämpiger Filzhut, gestreifte oder einfach graue Jacke, helle weite Beinkleider, die um die Hüften fest anschließen und bis zum Knie reichen, und dann Gamaschen mit Pasteln (ein Schuhwerk, das eine Zusammensetzung von Strumpf und Sandale ist) oder gar keine weitere Bekleidung des Unterbeines – bildete zu der männlichen Haltung und dem fast stolzen Gange einen interessanten Contrast, und eigenthümlich hübsch nahm es sich dabei aus, daß diese bewußtvolle freimännliche Haltung sich bis hinab zu den kleinen Knaben wiederholte, die, mit ihren tiefblauen blitzenden Augen dem Landen der fremden Gäste zuschauend, in der ungezwungenen Festigkeit ihrer Stellung, die Arme über die Brust gekreuzt, dem Maler Stoff zu den liebenswürdigsten Studien geliefert haben würden.

Das Landen sämmtlicher Besucher inclusive der von uns mitgebrachten vierzig Mann Militärmusik war erfolgt, und nun gingen wir zum Waldessaum hinan, um der daselbst harrenden weiblichen Bevölkerung der Insel unsere pflichtgemäße Aufwartung zu machen. Wir wurden von derselben freundlich empfangen. Keine Einzige zeigte Verlegenheit oder gar Aengstlichkeit, im Gegentheil waren sie alle von einer gewissen bescheidenen Zuthunlichkeit, die einen recht angenehmen Eindruck machte. Sie sind mit wenigen Ausnahmen nicht eben schön, wenigstens werden ihre Gesichter durch die gesteiften hohen, bis tief in die Stirn hineingehenden Mützen sehr entstellt; aber sie haben, wie auch die Männer, alle schöne, gesund strahlende, lebhafte Augen, sind zum Theil schlank und groß, alle aber gut gewachsen und, ebenfalls wie die Männer, von gewandter Tournüre, was sich besonders später beim Tanz in überraschender Weise zeigte. Sie scheinen viel auf Putz zu geben, denn ihr Sonntagsstaat strahlte von bunten Tüchern, Spangen, Ketten etc. Einige trugen dreierlei verschiedene Perlenschnüre, von Bernstein, von blauen Perlen und von Wachsperlen. Ihre Zutraulichkeit stieg, als einige Herren Ketten und sonstige Schmucksachen unter ihnen vertheilten und die Kinder mit Spielsachen beschenkten. Es wurde Alles mit bescheidenem Dank, ohne daß die Frauen sich herzugedrängt, noch ohne daß sie sich irgend genirt hätten, angenommen. Bei Allem hatte ihr Benehmen etwas ungezwungen Sicheres.

Als alle Fahrgäste beisammen waren, setzte sich der lange Zug der Einwohner und Fremden unter den schmetternden Klängen der Militärmusik in Bewegung, um zum Dorfe zu gelangen, das drei Werst von unserm Landungsplatze entfernt lag. Die Runoer machten feiertäglich vergnügte Gesichter, die alten Fichten aber schüttelten verwundert ihre Häupter ob des unerhörten Ereignisses.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_649.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)