Seite:Die Gartenlaube (1868) 650.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Sie hatten, so alt sie waren, außer den Dorfgeigern, keine Musik gehört und seit fünfzehn Jahren, wo die Insel zuletzt von einer kleinen Expedition besucht wurde, keinen modern gekleideten Menschen in ihrem Schatten gesehen. –

Da uns bis zur Rückfahrt nach Riga nur der kurze Aufenthalt von wenigen Stunden auf der Insel vergönnt war, ein Zeitraum, der kaum hinreicht, nur die oberflächlichste Neugier nach den eigenthümlichen Menschen und Verhältnissen zu befriedigen, so hatte ich vorher, um wenigstens einigermaßen orientirt anzukommen, eine Schilderung der Insel von J. G. Kohl in seinem bekannten Buche über „die deutsch-russischen Ostseeprovinzen oder Natur- und Völkerleben in Kur-, Liv- und Esthland“ gelesen, merkte aber sehr bald, daß diese Lectüre nichts als eine verlorene Mühe war. Herr Kohl, das „correspondirende Mitglied der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst“, erzählt z. B., daß Runoe holzarm sei, sehr wenig größere Bäume und nur niedriges Gebüsch und deshalb lauter steinerne Häuser besitze. Unser Weg in das Innere der Insel, der durch einen dichten, oft recht dunkeln Wald hoher kräftiger Fichten führte, und der Anblick des Dorfes, das ohne Ausnahme hölzerne Hänser hat, bestätigte mein erwachtes Mißtrauen gegen das „correspondirende Mitglied“, dessen Mittheilungen ich vollends ad acta legen mich bewogen fühlen mußte, als ich durch die Runoer erfuhr, daß seine Angabe von tausend Einwohnern der Insel sich in Wirklichkeit auf eine Gesammtzahl von circa vierhundert reducirt. Da Kohl sich so unzuverlässig erwies, so mußte ich mich, so gut es ging, durch Ausfragung der Bewohner mit später vorzunehmender Vervollständigung durch zuverlässigere Werke zu belehren suchen. Die Verständigung mit den Runoern ging ziemlich glatt von Statten, da sie, wenn auch das Schwedische ihre eigentliche Muttersprache ist, doch fast Alle, wenigstens die Männer, zufolge ihres Verkehres mit Riga und den diesseitigen Ostseeküstenbewohnern, eine Art Plattdeutsch sprechen.

Dennoch hatte das Examen, das ich in dieser Weise, um keine Zeit zu verlieren, schon auf dem Wege zum Dorfe mit den Insulanern vornehmen mußte, seine Schwierigkeiten. Das Benehmen der in freudigem Stolze über die Ehre eines so zahlreichen fremden Besuches einherschreitenden Bauern, ihre strahlenden Gesichter bei den für die Meisten von ihnen so fremdartigen und berauschenden Klängen der weithin schallenden Musik, die Wonne, mit der die Mädchen unsere Nachricht empfingen, daß diese schöne Musik auch später zum Tanze aufspielen werde – das Alles hatte für uns Besucher etwas so Anziehendes, daß es meinerseits mit den trockenen Fragen ebensowenig recht vorwärts wollte, als die durch die Ueberraschung etwas zerstreuten Runoer, die höchst verzeihlicherweise mehr auf die Musik als auf meine lästigen Fragen hörten, besondere Lust zum Antworten verspürten.

Ich glaube, wenn Heinrich Heine diese Fahrt mitgemacht hätte, so würde er mit malitiöser Entrüstung uns in die Ohren geflüstert haben: „Aber meine Herren, sehen Sie denn nicht die emporragende männliche Haltung, den majestätischen Gang, die tiefklaren Blicke und stolz zuckenden Lippen der Männer von Runoe? Machen dieselben nicht den unabweisbaren Eindruck, als stammten sie sammt und sonders von einem uralten nordischen Fürstengeschlecht ab, das sich, vielleicht weil ihm die übrige Welt zu schlecht war, vor Jahrhunderten auf dieses entlegene Eiland in stolzer Selbstgenügsamkeit zurückgezogen hat? Und Sie, meine Herren, lassen von diesen Männern Ihre Plaids und Paletots und große Körbe mit Wein und Bier, ja sogar, ich wage es kaum auszusprechen, ganze ,Paudelchen’ mit Butterbroden tragen?“ Glücklicherweise war „der ungezogene Liebling der Grazien“ nicht unter uns, um zu seinen Nordsee-Phantasieen eine Fortsetzung in Form von Ostseebildern zur Welt zu bringen. Ich suchte den romantischen Blüthenstaub von mir abzuschütteln, indem ich erst den hochgewachsenen jungen Menschen, der, neben mir herschreitend, meinen Paletot trug, scharf von der Seite ansah und dabei zur Beruhigung meines Gewissens doch einiges Unfürstliche an ihm wahrnahm, und mich dann zu einem bejahrten Runoer wandte, von dem ich ein Eingehen auf meine Fragen erwartete.

Ich hatte mich in ihm nicht getäuscht. An seinen Antworten merkte ich, was ich bei anderen Runoern später bestätigt fand, daß dieses Inselvölkchen mit wahrhaft imponirendem Stolze von seiner durchaus selbstständigen und freien Regierungs- und Verwaltungsweise spricht. In ihrem seemännisch-deutschen Jargon sagen sie Alle mit stolzem Selbstbewußtsein, welches wohl viel zu ihrer männlichen Haltung beiträgt: „Wir selbst wählen unsere neun Männer, die über Recht und Unrecht entscheiden. Wenn wir unsere jährlichen Steuern nach Arensburg gebracht haben, darf Niemand außer unseren neun Männern auf Runoe etwas anordnen; denn ,wir haben unsere geschriebenen Frühüten’!“

Ich fragte, ob sie diese geschriebenen Freiheiten immer gehabt hätten?

„Ja, immer, wir hatten sogar vor vielen hundert Jahren noch viel mehr geschriebene Frühüten, aber da war slechter König Earolus von Sweden, der uns große Frühüten fortgenommen hat.“

Näheres über diesen König Carolus und die geschriebenen Freiheiten, die er genommen, konnte ich nicht von ihnen erfahren.

Die mündliche Ueberlieferung des positiv Geschichtlichen ist bei den Runoern mit der Tradition der Sage in so naiver anachronistischer Weise vermischt, wie es bei einem naturwüchsig intelligenten, aber culturarmen Volke nur der Fall sein kann. Später fand ich über diesen grausamen König Carolus, der an dem schrecklichen Freiheitenraub unschuldig wie ein Kind zu sein scheint, trotz des Dunkels, welches über der Geschichte von Runoe schwebt, einigen Aufschluß; in Ekman’s „Beskrifning om Runoe“ lesen wir: „Carl der Zwölfte (von Schweden) fuhr 1700, als er von Domesnees nach Pernau sich übersetzen ließ, an Runoe vorbei, wo damals, wenigstens seit 1689, ein schwedischer Commandeur nebst einem Lieutenant, Namens Andreas Lindenberg, und einem Commando Soldaten stand, das aber 1708 von den Russen, die mit einem Kriegsfahrzeuge landeten, überfallen und größtentheils niedergemacht wurde; 1713 leisteten die Runoer den Huldigungseid, und seitdem war Runoe in politischer und kirchlicher Hinsicht immer von Oesel abhängig.“

Was für geschriebene Rechte König Carolus ihnen genommen, wußte mir kein Runoer zu sagen. Mein Runoe’scher Geschichts-Docent, der bejahrte Einwohner nämlich, steifte sich blos darauf, daß es „sehr viele gesriebene Frühüten“ waren. „Aber,“ fragte ich ihn, „habt Ihr denn mit Eueren jetzigen Freiheiten noch nicht genug? So viel Freiheit und Selbstständigkeit, wie Ihr, besitzt ja kein Volk.“

Im Widerspruch zu dem Stolz und Selbstbewußtsein, womit der Alte vorhin von den Runoe’schen Freiheiten gesprochen, schien er über meine letzten Worte sehr erstaunt.

„Was, Ihr habt nicht so viele Freiheiten, als wir?“

„Nein,“ sagte ich, „nicht die Hälfte.“

„Dürft Ihr denn nicht thun, was Ihr wollt?“

Ich mußte natürlich „nein“ antworten, denn gegenseitige Wahrheit war selbstverständliches Uebereinkommen. Jetzt aber übernahm der greise Insulaner das Examiniren, indem er mich fragte: „Was dürft Ihr denn zum Beispiel nicht thun?“

Durch diese Frage gerieth ich in eine gelinde Verlegenheit, denn wer die Wahl hat, hat die Qual. Endlich – es war just das Erste, was mir einfiel – sagte ich ihm: „Nun, wir dürfen zum Beispiel nicht Alles schreiben, was wir wollen.“ Dem Bauer schienen meine Worte etwas zu doctrinär zu sein, er hatte sie nicht recht gefaßt. Ich suchte mich deshalb folgendermaßen populär auszudrücken: „Gesetzt, Euer Cantor (sie nennen ihn ,Vorsinger’) schreibt eine Schrift, die das ganze Dorf lesen und wissen soll, und die er deshalb an die Kirchenthür oder an diesen Wegweiser anheftet. Bei uns,“ fuhr ich fort, „würde in solchem Falle ein Beamter erst die Schrift lesen und dann, was ihm nicht gefiele, ausstreichen.“ Der Bauer wollte mir anfangs nicht glauben, er meinte, ich treibe Scherz mit ihm, und erst meinen wiederholten Betheuerungen gelang es, ihn von der Wahrheit meiner Mittheilung zu überzeugen. Er sah mich wie mitleidig herablassend an, so daß ich über seine Mienen, die jetzt das drolligste Gemisch von Stolz und Treuherzigkeit zeigten, beinahe hell aufgelacht hätte. „Was würdet Ihr thun,“ fragte ich ihn, „wenn von der Insel Oesel vom Arensburger Ordnungsgericht jetzt ein Beamter käme und Euch eine solche vom Cantor geschriebene Schrift zur Hälfte ausstriche?“

„Er thut es nicht.“

„Wenn er es aber doch thut?“

„Er derp nicht.“

„Wenn er aber als Beamter das Recht zu haben glaubt und es trotzdem thut?“

„So ’was ist noch nicht vorgekommen, aber ich glaube, wenn er es thut, dann kommen unsere neun Männer zusammen und

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_650.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)