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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


„O du liebe Mutter vom Birkenstein!“ rief die Bäuerin schmerzlich, als sie den Leidenden bleich und entstellt vor sich liegen sah. „Ist’s denn menschenmöglich, daß dies der Ambros ist, der gute, brave Bursch, der noch vor ein paar Wochen dag’standen ist, so frisch und g’sund wie ein Kirschbaum?“

Tonerl konnte nicht sprechen. Schweres Schluchzen erschütterte ihre Brust; wie unwillkürlich sank sie am Bettrande in die Kniee und beugte das thränenübergossene Antlitz auf die kaltfeuchte Hand des Verwundeten nieder. „Ambros!“ rief sie weinend, „hörst mich nimmer? Das Tonerl ist da! ich bin bei Dir – Ambros – Ich will Dich um Verzeihung bitten für Alles, was ich Dir angethan hab’ – daß ich Dein gut’s, treu’s G’müth so von mir gestoßen und veracht’t hab’. Schau mich nur noch ein einzig’s Mal an und sag’, daß Du mir verzeihst! Ich bin hart g’nug g’straft, auch ohne das, davon ist Gott mein Zeug’!“

Waren es die heißen Thränen, welche die Hand des Leidenden überströmten, oder hatte die bekannte Stimme eine solche Gewalt über die entschwindenden Lebensgeister, – Ambros öffnete noch einmal die schweren Augenlider, sein Blick traf das Antlitz der Bäuerin; er streifte über dem gebeugten Haupte des Mädchens hin und ein unbeschreiblicher Ausdruck der Seligkeit und des Glückes brach aus den dunklen Augen hervor. „Was? Die Bas’ kommt zu mir!“ flüsterte er. „Das ist schön; das freut mich … Und Du bist auch da, Tonerl, und Du weinst wohl gar um mich? Das macht mir das Sterben leicht.“

„Red’ net vom Sterben, Vetter!“ sagte die Bäuerin. „Du wirst vielleicht schon wieder werden. Du mußt halt ein recht’s Vertrauen fassen zu der heiligen Mutter vom Birkenstein; die hat schon noch viel größere Wunder gewirkt.“

„Nein, Bas’,“ sagte Ambros mit leichtem, traurigem Kopfschütteln, „was in meiner Brust zerrissen ist, das wird net wieder ganz. Ich spür’s, das Bajonnet ist zu tief ’neingegangen; er hat gar z’ fest zug’stoßen, der Herr Günther.“

„Wer?“ rief die Funkenhauserin. „Wer, hast Du g’sagt?“ und die wenigen Silben blieben ihr beinahe auf der Zunge haften. Toni starrte ihn entsetzt und wie versteinert an: die Thränen in ihren Augen standen einen Augenblick still.

„Der Günther,“ wiederholte Ambros matt. „Ihr kennt ihn ja, den Herrn Schulze, der unser Gast g’wesen ist auf dem Funkenhauserhof … Wir sind mit einander z’samm ’kommen und haben abg’rechnet mit einander.“

„Das auch noch!“ stammelte Toni halblaut und tastete, dem Umsinken nahe, um sich. „Mir wird so schwarz vor den Augen; ich glaub’, mir wird net gut.“

„Das macht die Luft von der Krankenstube und die Alteration,“ sagte der Wärter. „Ich führ’ die Jungfer ein wenig hinaus an die frische Luft; da wird ihr schon wieder besser werden.“ Er that’s; Toni wankte hinaus, und mit Augen, die wie zwei erlöschende Kohlen funkelten, blickte Ambros der Verschwindenden nach.

„Sie hat ihn noch immer gern, Bas’,“ stammelte er. „Daß ich sterben muß, das kränkt sie viel weniger, als daß es der Günther ist, der mir das gethan hat …“

„Denk’ jetzt net an solche weltliche Sachen!“ rief die Bäuerin. „Jetzt ist zu ernsthaften Gedanken Zeit. Mach Ordnung mit unserem Herrgott! Ambros – denk’ an die Ewigkeit!“

„Ich kann net, Bas’,“ jammerte er. „Das hat mir wieder einen Stich ’geben, mitten durch’s Herz, der brennt mehr als die Wunden von dem spitzigen Eisen – so kann’s höllische Feuer net brennen. Sie hat mich amal gern g’habt, Bas’; ich weiß’s g’wiß, von Herzen gern, bis der Preuß’ ’kommen ist mit seine Schmeichelwort’ und seine schönen Reden – der hat sie verkehrt und hat mir ihr Herz gestohlen und ihre Lieb’, und jetzt nimmt er mir auch noch mein jung’s Leben! Und ich kann mich net rächen an ihm und kann’s ihm net vergelten!“

„Scham’ Dich, Ambros,“ sagte die Bäuerin ernst, „daß Du so abscheuliche Reden führst! Ist Dein ganz’ Christenthum verloren ’gangen in der kurzen Zeit von Dein’ Soldatenleben? Denk’ an die Ewigkeit, denk’ an’s Beten! Schau, ich will bei Dir bleiben, Ambros, und will Dir vorbeten.“ Sie hatte sich auf den Rand des Lagers gesetzt und ein altes, vergriffenes Büchelchen mit großgedruckten Gebeten und unscheinbaren Holzschnitten hervorgezogen; sie blätterte und wollte eben anfangen zu lesen. Darüber fiel ein Blatt heraus und flog auf die Decke.

Ambros griff darnach, schaute es an, und wie in den Tagen der Kraft und Gesundheit trieb ihm das Blut die letzten seiner Wellen in’s Angesicht. „Die heilige Philomena!“ hauchte er, und aus seinem Auge brach ein Glanz des Friedens, wie ein plötzlicher Sonnenstrahl durch das Gewölk bricht. „Die Heilige vom Seitenaltar in unserer Kirchen daheim, – die Fräul’n!“

Es war das letzte Aufflackern der erlöschenden Flamme gewesen. Mühsam hob er die erlahmende Hand und streckte sie der Bäuerin und Tonerl entgegen, die gefaßter eben wieder in’s Zimmer trat. Sie ergriff seine Hand; ihr letzter Druck durchzitterte sie. Fest und starr hing sein Auge an ihr, aber nicht mehr feindlich und bitter wie zuvor; immer heller, immer verklärter brach der Strahl der Liebe daraus hervor. Um seinen Mund breitete sich ein versöhnendes Lächeln – noch wenige Augenblicke, und er hatte vollendet.

In wort- und thränenloser Rührung verließen die Frauen den Saal und traten auf den von trüben Laternen beleuchteten Vorplatz hinaus; hart an der Schwelle, so nahe, daß die Begegnung nicht mehr zu vermeiden war, stand ihnen Günther gegenüber.

Einen Augenblick blickten sie sich schweigend und überrascht an. Günther machte eine Bewegung, als ob er sich nähern wollte; ein Wort schwebte auf seinen Lippen; die Bäuerin aber wies ihn mit heftig abweisender Geberde zurück. Toni verbarg ihr verstörtes Angesicht in ihrem Tuche; dann schritten sie an ihm wie an einem Fremden vorüber. „Ein Begegnen auf Nimmerwiedersehen,“ sagte er dann vor sich hin, trat an die Thür und schaute den Dahinschreitenden nach in die Nacht, die draußen sich niedergesenkt hatte, finster und sternenlos.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Londoner Kummerhof.

Die gebildete Industrie darf heutzutage gar keine Abfälle und schädlichen Kummer- und Kehrichtstoffe mehr kennen und dulden. Allerdings wußte man dies schon lange und deutsche Gelehrte, wie Pettenkofer etc., führten den wissenschaftlichen Beweis dafür wohl noch eher, als die Engländer; aber Letztere warteten nicht auf diese Bestätigung der Wissenschaft, sondern kämpften schon seit mehr als einem halben Jahrhundert immer massenhafter und siegreicher gegen den alten gefährlichen Drachen alles gesunden Lebens und frischen Fortschritts. Wie man aus stinkendem Theer die prachtvollsten Farben und kostbarsten Wohlgerüche, aus den ekelhaftesten Lumpen nicht nur warme, sondern auch schöne neue Kleider, aus allen Theilen gefallener Gäule die werthvollsten Dinge des Nutzens und der Niedlichkeit bereiten, aus verhaßten Cloakenflüssigkeiten durch einen noch neuen chemischen Proceß Werthe von zwei Silbergroschen um mehr als vierhundert Procent erhöhen kann, so weiß man in England auch allerhand Kummer und Kehricht, der sich bei uns zu Drachenburgen anhäuft und den Niemand umsonst haben will, in allen Theilen vermittels der großartigsten Industrie auf das Vortheilhafteste zu verwerthen und zu lachenden Geld- und Lebensquellen zu veredeln.

Da man in Deutschland die genialen Bücher von Charles Dickens wohl eben so gern liest, wie die besten Romane unserer eigenen Schriftsteller, wird der goldene Kummermann (the golden dustman) aus seiner letzten großen Schöpfung: „Unser beiderseitiger Freund“ auch in Deutschland keine unbekannte Größe geblieben sein. Wir sehen ihn im Geiste, den kleinen, knurzigen Krösus mit dem Stock im Arm, sehen die geheimnißvollen, ungeheuren Müllhaufen, aus denen sein Vater und Vorgänger die Haufen goldener Pfunde destillirte, und die gierigen Erbschleicher, welche sich gegenseitig um diese goldhaltigen Kummerhaufen zu betrügen suchen, und haben dadurch wohl schon eine mehr ideale Vorstellung von solchen englischen Müllgeschäften gewonnen. Mancher Leser mag dabei geglaubt werden, daß der goldene Dustmann und seine Haufen von Müll und Geld mehr Kinder der eigenthümlichen


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