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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


verkauft werden, weshalb sie ärmeren Leuten sehr willkommen sind. Die gelegentlichen goldenen und silbernen Funde darin sollen eigentlich an den Herrn abgeliefert werden, verschwinden aber meist zwischen den Lumpen der Siebeweiber. Von den metallischen Bestandtheilen, alten Nägeln, Bruchstücken von eisernen und metallischen Kochgeschirren, Bratpfannen etc. wird auch schönes Geld gemacht, da sie in vielen Werkstätten, wo Eisen und sonstige Metalle verarbeitet werden, einen Vorzug vor frischem Material genießen, der chemischer Natur sein soll. Die vielfältige Verwerthung der Knochen und Lumpen ist auch bei uns bekannt genug, doch in England viel ausgebildeter, da die verächtlichen Fetzen wollener, baumwollener oder gemischter Art bis auf die letzten Fasern theils wieder zu Shoddy oder Mungo versponnen und verwebt werden und selbst der daraus geschüttelte „Teufelsstaub“ für chemische Zwecke oder wenigstens als Dünger die lohnendste Verwendung findet.

Der Chaussee-Schlick wird nach gehöriger Sichtung hauptsächlich zu Bindemitteln bei allerhand Bauten und zum Häuser-Anwurf benutzt, und verdient wegen seiner größeren Härte und Wasserdichtigkeit durchaus den Vorzug vor den gemeinen Kalk- und Sandmischungen, womit in Deutschland selbst große Prachtbauten oft locker und liederlich zusammengeklebt werden.

Durch diese Andeutungen wird es uns wohl schon klar geworden sein, daß aller Kummer und Kehricht aus seiner tiefsten Erniedrigung und Pestilenzialität wieder zu nützlichen Werthen erhoben und veredelt wird. In London leben Tausende von Menschen davon, die sonst selbst als Kehricht verkümmern würden, und die Herren solcher Geschäfte werden nicht selten zu „goldenen Dustmännern“ und zwar auf ganz redliche Weise, da sie für das Geld, welches sie ernten, die Ernten in Feldern und Gärten vermehren und alle sonstige Müllproducte, die sie verkaufen, den Kunden auch wieder Geld und Gewinn bringen.

Sehen wir uns das kleine Nebengeschäft unseres Bierwirthes, als finanzielles Unternehmen, etwas näher an. Alle seine Kosten belaufen sich auf etwa drei Schillinge oder einen Thaler für jede Ladung. Da nun täglich im Durchschnitt vierzig ankommen, hat er hundertundzwanzig Schillinge oder vierzig Thaler Tageskosten. Aus diesen vierzig Fudern gewinnt er durch Sieben dreißig Ladungen „Erde“ und „Luftzug“, die, à vier und einen halben Schilling, für hundertfünfunddreißig Schillinge verkauft werden. Der harte und der weiche Kern werfen täglich fünfzehn, also zu Obigem gezählt hundertundfünfzig Schillinge täglich ab. Sonach bleiben nach Abzug der Ausgaben dreißig Schillinge oder zehn Thaler täglicher Reingewinn übrig, was jährlich über vierhundertundfünfzig Pfund, also etwa dreitausend Thaler ausmacht. Davon müssen noch hundert Pfund für jährlichen Pacht abgezogen werden. Unter allen Umständen bezieht der pfiffige Bierwirth aus seinem kleinen schmutzigen Nebengeschäfte mindestens zweitausend Thaler ganz reinliches Geld, und macht sich dadurch außerdem nach den verschiedensten Seiten verdient und nützlich.

Die goldenen Dustmänner Londons und sonstiger englischer Städte lassen die Häuser und Höfe durch ihre dienstbaren Geister immer frisch und fleißig von den Nestern der modernen Drachen und ihrer jungen Brut befreien und zaubern aus diesen Kummerhaufen, zum Vortheil unserer Gesundheit, für alle Bewohner stets neue Kostbarkeiten des Lebens und Wohlstandes hervor. Da man nun in London und fast allen englischen Städten auch stets mit Millionen von Wasser- und Dampfkräften dafür sorgt, daß die feuchten und flüssigen Brutbetten der epidemischen Krankheitsdrachen immer ausgespült und gereinigt werden, und man ganz neuerdings auch die kostbare Entdeckung gemacht, aus den unschädlichen unterirdisch davongespülten Cloakenflüssigkeiten die reinen Düngerwerthe durch einen wohlfeilen chemischen Proceß herauszufischen, so sollte man sich in Deutschland, wo Berlin und andere große Städte während der Sommermonate thatsächlich wie die Pest geflohen werden, da die Drachen, in giftigen Lachen gezeugt und weit und breit sich sonnend auf warmem Grunde, mit ihres Athems giftigem Wehen die Luft verpesten, wohl endlich auch entschließen lernen, den Kampf mit diesen Drachen aufzunehmen.

Wir haben viele ritterliche, adelige Geschlechter mit alten Stammbäumen, auf welche mancher Hoflieferant und Bankier als neues Reis gepfropft wird. Wir brauchen, wir verlangen gegen die sich immer mehrenden Heerden von Lindwürmern, Typhus- und Choleradrachen ein neues, kühnes Rittergeschlecht von Helden, die sich gewiß von selbst finden werden, wenn die hohe obrigkeitliche Bewilligung zur Ausführung solcher Heldenthaten nicht mehr durch Mangel an Einsicht und gutem Willen vereitelt wird.

In England leuchten Tausende von Lichtern für diese Einsicht und brennen unzählige Dampfkessel zur Anfeuerung unseres Muthes. Man lerne sie benutzen, dann wird es bald kühne Ritter geben, die wir ehren, und manchem werden wir zurufen, wie dem Schiller’schen:

„Ein Gott bist Du dem Volke worden!“




Eine kleine Republik in der Ostsee.
Reiseskizze von Friedrich Pilzer.
(Schluß.)


Die Mitglieder der in unserer Gesellschaft befindlichen „Rigaer Liedertafel“ hatten den Runoer Cantor gefragt, ob es erlaubt sei, daß sie in der Kirche durch vierstimmigen Männergesang eine Art Gottesdienst verrichteten. Der Cantor meinte, die Runoer hätten zwar soeben ihren Sonntag-Nachmittags-Gottesdienst gehalten, und das Singen sei sonst nur seine, des Cantors Sache, aber die Herren aus Riga würden gewiß schöner und auch recht feierlich zu singen verstehen, so möchten sie nur die Gemeinde durch ihren Gesang erbauen. Alsbald schallte die hölzerne Wölbung des kleinen von Menschen überfüllten Gotteshauses von Kreuzer’s unsterblichem „Das ist der Tag des Herrn“ wieder, dem noch eine zweite seriöse Composition folgte. Die Gesichter der Runoer Männer und Frauen leuchteten in Andachtswonne. Besonders fiel mir die mächtige Gestalt eines Jünglings auf, dessen jugendlich strotzende Kraft nur gebändigt erschien von dem mystischen Dämmer eines halbwachen religiösen Empfindens. Diese rauhen Hände, die gewohnt sind, mitten in den Eisbergen des winterlichen Meeres mitleidlos die tödtliche Harpune auf die Seehunde zu schleudern oder das ebenso verderbliche Feuerrohr gegen diese Opfer fest und sicher zu führen, waren jetzt andächtig gefaltet, und das in Sturm und Gefahren gebräunte kühne Antlitz, zu dessen beiden Seiten das dunkelblonde Haupthaar aus einem natürlichen Scheitel dicht und glatt herabfiel, hatte in diesem Augenblick den milden frommen Ausdruck eines Kindes. Nachdem der Gesang vorüber war, wurden dem Cantor sechsundzwanzig Rubel übergeben, – das Ergebniß einer Collecte, welche während der Fahrt in unserer Gesellschaft für die Kirche veranstaltet worden war. Der Cantor erzählte, daß die letzte vor fünfzehn Jahren zum Besuch auf der Insel gewesene Gesellschaft ebenfalls der Kirche ein Geldgeschenk gemacht habe. Als der improvisirte Gottesdienst beendigt war, wurde die Menge von dem hellen Geläute der kleinen Kirchenglocke hinausbegleitet.

Da ein Pastor, von dessen Mittheilungen ich mir so manchen Aufschluß über Geschichte und Eigenthümlichkeiten des Runoer Völkchens versprochen, nicht vorhanden, die Pastoratswohnung kurz vor Entlassung des letzten Geistlichen abgebrannt war, und der Cantor mir erklärte, keinerlei Chronik zu besitzen, so blieb ich noch einige Augenblicke in der Kirche, in der Hoffnung, daß vielleicht die stummen, ärmlichen Reliquien und Zierrathe derselben mir einige interessante Mittheilungen machen würden. Ganz hatte ich mich nicht geirrt, obwohl meine Ausbeute gering war. Ich sah daselbst nämlich vor der verhältnißmäßig großen Altarnische das lebensgroße, zwar von der Zeit ziemlich mitgenommene, aber, wie mir schien, von gediegener Künstlerhand gemalte Bild eines Ritters in anscheinend fürstlicher Tracht, welche auffallenderweise, wenn der Mantel und die Schmucksachen hinweggedacht werden, beinahe die jetzige Tracht der Runoer Männer darstellt. Auf meine Fragen erwiderten mir die Einwohner, es sei Herzog Wilhelm von Kurland, der gegen das Volk von Runoe sehr gut gewesen sei. Was sie in sich widersprechenden Versionen weiter von ihm erzählten, war sagenhafte Tradition.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_663.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)