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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Ich mußte mich mit dieser dürftigen historischen Wahrnehmung begnügen, zumal mir die schließliche Unfruchtbarkeit meines Suchens, als ich aus dem stillen Kirchlein heraustrat, recht drastisch durch den vom Dorfe her lustig erschallenden Walzer, den unsere Musik jetzt spielte, vor die Seele gezaubert wurde. Auf dem sanft emporsteigenden Rücken einer von Fichten, Ellern und Birken angenehm beschatteten Anhöhe bis zum Fuße derselben hatte sich eine große Anzahl der Besucher in den verschiedensten Gruppen gelagert. Gegenüber befanden sich, von kleinen mit Obstbäumen etc. versehenen Gärten unterbrochen, die ersten Häuser des hier beginnenden Dorfes, vor denen die spielenden Musiker aufgestellt waren, und dazwischen hatten Einwohner und Fremde einen Kreis gebildet, in welchem junge Kaufleute, Literaten, Beamte etc. mit den Runoerinnen nach dem Tacte eines fröhlichen Walzers herumtanzten. Die Paare flogen sicher, und auffallenderweise auf dem schlecht parquettirten holperigen Wiesenboden so rhythmisch gewandt, daß ich meinen Augen kaum trauen mochte. Da war von den ergötzlichen Miseren, die sich so oft bei der ungleichen Zusammensetzung der Paare aus städtischen und ländlichen Tänzern ereignen, nichts zu finden. Die Runoerinnen bewegten sich trotz der schwerfällig aussehenden „Pasteln“, womit ihre Füße bekleidet waren, so leicht und bewahrten selbst in dem rapiden Tempo eines ausgelassen stürmischen Galopps eine so gefällige ungezwungene Haltung, wie ich es bei hiesigen lettischen oder russischen Bäuerinnen niemals gefunden habe; und diese Runoerinnen hatten doch sammt und sonders bis dahin nur nach der höchst mittelmäßigen Musik ihrer Väter und Brüder, die zugleich die Functionen der Dorfgeiger ausüben, getanzt. Es liegt viel Naturgabe in diesem eigenthümlichen Völkchen. Ich sollte hiervon und von ihrer Intelligenz noch Ueberraschenderes erfahren, als ich einige ihrer Wohnungen und Werkstätten besuchte.

Nachdem sich mein Erstaunen über die auf einer nordischen Insel gewiß auffallende Fertigkeit und Leidenschaft ihres Tanzes einigermaßen besänftigt, erwachte in mir das Verlangen, nun auch die Wohnungen dieser eigenthümlichen Menschen kennen zu lernen. In Gesellschaft eines Reisegefährten und eines alten Runoers begab ich mich in’s Dorf, in der selbstverständlichen Ueberzeugung, im Innern der Häuser, den hohen Gestalten der Bewohner entsprechend, wenn auch keine mächtigen Hallen, so doch wenigstens hohe geräumige Gemächer zu finden. Ich hatte mich aber sehr getäuscht, denn ich fand nichts als dunkele niedrige Zimmer, die zwar geräumig waren, dafür aber auch mehreren Familien zugleich zur Wohnung dienen. Es giebt in Runoe Stuben, in denen Nachts fünfzehn Personen zu gleicher Zeit schlafen, das Elternpaar und verheirathete Söhne nebst ihren Frauen und jüngeren Geschwistern. Daß es eine Welt giebt, in der hieran sittlicher Anstoß genommen werden würde, scheint ihnen völlig unbekannt zu sein; eine junge Frau mit ihrer jüngeren unverheiratheten Schwester, welche wir in einer von vier Familien bewohnten Stube trafen, gaben uns über diese Einrichtungen in der unbefangensten harmlosesten Weise die ausführlichsten Berichte.

Es ist deshalb kein Wunder, daß wir nach allen Eindrücken, welche die Bewohner auf uns gemacht, von der unangetasteten Reinheit ihrer Sitten die beste Meinung empfangen mußten. Die Kunst des Verstellens und Komödiespielens gegen Fremde scheinen die Frauenzimmer wenigstens nicht zu verstehen, und auch bei den Männern kann dieselbe Angesichts ihrer rauhen und kühnen Arbeit psychologisch gewiß nur in sehr geringem Grade vorausgesetzt werden. Diplomatie ist ja fast nur eine Errungenschaft der Civilisation. Der Manneskraft und Kühnheit pflegt die Verstellung gewöhnlich recht sauer zu werden. Die Männer mögen schlau und geldgierig sein, wie man ihnen nachsagt. Man darf dann aber auch nicht vergessen, welch’ einen Werth das Geld für sie hat. Es ist ja das Einzige, wodurch sie auch im Verkehr mit der Welt die Freiheit und Selbstständigkeit zu wahren vermögen, die sie von Jugend an auf ihrem Eiland gewohnt sind. Ich glaube nicht ganz fehlzugehen, wenn ich die Untugenden, die man ihnen nachsagt, sofern sie dieselben wirklich besitzen, auf ihren Insular-Egoismus zurückführe, der, so natürlich und unausbleiblich er bei ihnen erscheint, allerdings viel Herbes, sogar bis zur Inhumanität Gehendes im Gefolge haben kann. Ich erinnere an die im zweiten Abschnitt meines Berichtes mitgetheilten Worte des Bauern: „Dann binden wir ihn in ein Boot und fahren ihn an einen anderen Strand.“ Dieses ist überhaupt das letzte Auskunftsmittel, welches sie bei Vergehen anwenden, die so arg sind, daß sie in ihrem auf mündlicher Ueberlieferung beruhenden, wahrscheinlich ziemlich primitiven und harmlosen Strafcodex gar keinen Paragraphen dafür haben. Unverbesserliche oder reuelose Unsittlichkeit, Faulheit oder Feigheit bei der schweren gefahrvollen Arbeit des Seehundfanges bestrafen sie, wenn nichts mehr helfen will, durch Aussetzung des Betreffenden an einen fremden Strand. Fremd nennen sie jedes nicht Runoe’sche Meeresufer.

Während der Regierungszeit des Czaaren Nicolaus ist es vorgekommen, daß sie einen ihrer Landsleute wegen irgend eines Verbrechens, das hier vielleicht mit einigen Monaten Zuchthaus, möglicherweise auch gar nicht bestraft worden wäre, auf diese Weise nach Riga brachten. Sie waren, wie gewöhnlich in jedem Sommer, in ihren kleinen Böten mit Seehundsfellen, Thran, Fischen etc. angekommen, hatten ihre Verkäufe und Einkäufe besorgt, und waren wieder fortgefahren. Da fiel es auf, daß sich Einer von ihnen noch immer auf der großen Dünabrücke herumtrieb und sich aus Hunger schließlich auf’s Stehlen legte. Es stellte sich heraus, daß er ein Deportirter war. Die Behörde ließ ihn sofort durch ein Lootsenboot wieder seiner Heimath zuführen und den Runoern sagen, daß sie ihre Verbrecher gefälligst bei sich behalten möchten, da Riga deren selbst schon genug zu beherbergen habe. Es dauerte nicht lange, so trieb sich der Runoer Delinquent wieder auf der Rigaer Dünabrücke umher. Abermaliger Rücktransport durch die diesseitige Behörde. Was thaten jetzt die Häupter des Runoe’schen Volkes? Sie machten sich in ihren kleinen Böten auf nach Petersburg und beschwerten sich beim Kaiser über das Benehmen des Rigaer Civil-Gouverneurs, der ihren Verbrecher immer und immer wieder zurückschicke.

„Was kommt Euch in den Sinn?“ erwiderte der Kaiser; „wie würde es Euch gefallen, wenn man plötzlich die livländischen Verbrecher nach Runoe bringen würde? Man bringt überall seine Verbrecher bei sich unter.“

„In unserem Lande nicht, Herr Kaiser,“ erwiderte der Runoer Sprecher, „in unserem Lande ist es Gesetz, daß die Verbrecher an einen anderen Strand gebracht werden, und wir kommen, Dich, Herr Kaiser, zu bitten, daß Du diesem Gouverneur in Riga verbietest, unsere Gesetze zu ändern.“

„Das ist allerdings etwas Anderes,“ erwiderte der strenge Herr Kaiser Nicolaus, dem die Runoer Burschen ein unsägliches Vergnügen bereiteten, „wenn das in Eurem Lande Gesetz ist, dann muß der Gouverneur in Riga gehorchen.“

Und so geschah es; Riga mußte den verbrecherischen Insulaner aufnehmen, der später ein sehr tüchtiger Matrose geworden sein soll.

So halten die Runoer alle Länder, nur nicht ihre Insel, für den Aufenthalt von Verbrechern geeignet, eine Anschauung, die gewiß das wunderbarste Gemisch von Egoismus, Naivetät und Dünkel repräsentirt. Jedoch kommen, wie gesagt, Fälle, in denen die Runoer zum Deportiren in civilisirte Länder greifen, höchst selten vor, weil die Veranlassungen dazu bei ihnen immer etwas Unerhörtes sind. Der Letzte, dem eine derartige Ehre zu Theil wurde, war, wie sie erzählen, ihr letzter Pastor. Trotzdem sie ihn nämlich wiederholt aufgefordert hatten, da er ihnen nicht mehr gefiele, einen neuen Seelsorger aus Schweden zu verschreiben und dann zu gehen, hatte er doch keines von beidem gethan, und deshalb wurde er in ein Boot gesetzt und nach Arensburg gebracht, in Folge dessen sie noch heute ohne Pastor sind.

Bezüglich ihrer Sittengesetze haben sie mir unter Anderem Folgendes mitgetheilt: Wenn ein Bursche und ein Mädchen sich in Liebe vergehen, so müssen sie sich heirathen, dürfen nicht in der Kirche, sondern nur auf der Straße vor derselben getraut werden, und der junge Ehemann muß dann schließlich noch fünf Rubel Strafe in die Kirchencasse bezahlen. Damit ist aber die Sache vollständig abgethan und das Paar ist gleich angesehen mit allen übrigen Eheleuten. Auf meine Frage, ob denn in den zwei Jahren, die sie ohne Pastor seien, sich gar keine Heirathslustigen gefunden und was diese armen Leute anfingen, wurde mir geantwortet: „Wenn der neue Pastor kommt, werden sie Alle auf der Straße getraut.“

„Und die fünf Rubel?“

„Müssen sie Alle bezahlen.“

Doch zurück in die Wohnungen. Unser alter Begleiter führte uns auch in seine eigene Behausung und Werkstätte, wo wir zu

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_664.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)