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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Die Martinsgans.
Mit Abbildung.

Es ist ein frostiger Novembermorgen. Die Berge haben die grauen Nebelkappen tief über die Ohren gezogen; still wie im Vorschlummer auf den Winter ruht mit bleichem Lächeln die Flur. Durch den entlaubten Hag huscht der muntere, anmuthige Gnom der deutschen Vogelwelt, der Zaunkönig, während der Edelfink auf blätterlosem Zweige klagend trauert um Frühling, Minne und um die entflohene Gattin, welche der Wanderzug nach milderen Gefilden getrieben.

Im ländlichen Gehöft dort ist es schon lange lebendig. Jetzt tritt der Hausherr aus der Thür, doch nur mit flüchtigem Blick späht er heute nach Wind und Wetter. Wichtigeres beschäftigt ihn. Er schreitet über den Hof, öffnet einen verschlossenen Raum, und alsbald verkündet fröhliches Geschnatter, welchen Gefangenen er die Kerkerthür geöffnet. Wohlgefällig ruht das Auge des Landmanns auf den feisten Gänsen, und ehe die Aermsten sich dessen versehen, ergreift seine rauhe Hand zwei der Arglosen an den schönen gebogenen Hälsen, und er trägt, ungeachtet ihres Sträubens, die kläglich Trompetenden dem Hause zu, von wo ihm die Bäuerin entgegenkommt und sein ältester flachshaariger Junge mit einem mächtigen Butterbrod in der Hand. Auch der Knecht und die Magd eilen herbei, das ehrwürdige Antlitz Großmütterchens zeigt sich am Fenster, und Allen läuft das Wasser im Munde zusammen; denn bald wird lieblicher Duft das Haus erfüllen, heute ist der elfte November, den Tisch ziert Mittags die mit köstlicher brauner Kruste überkleidete, fettglänzende Martinsgans. Und Großmütterchen, das Fenster öffnend, mahnt, doch ja die Borsdorfer Aepfel und den Beifuß nicht zu vergessen.

Die Martinsgans ist das Festgericht des elften November. An keinem andern Tage werden unter den „geflügelten Schweinen“ in germanischen Landen so arge Verheerungen angerichtet. Nur in wenigen Gegenden entzieht man sich der allgemeinen Sitte, z. B. am Niederrhein, wo frische Wurst mit Reisbrei, oder an der Ahr, wo „kalte Milch und Wecksupp“ an die Stelle der Gans treten.

Welchen Ursprung aber mag ein Gebrauch haben, der fast über das ganze germanische Europa verbreitet und deshalb wohl geeignet ist, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen?

Der elfte November ist der Tag des heiligen Martin; doch weder dessen Lebensbeschreibung noch der Auszug daraus in der Aurea Legenda geben Aufschluß über die wunderliche Verbindung zwischen dem ehrwürdigen Bischof von Tours und einem ganz gewöhnlichen Gänsebraten. Der Heilige wird hoch zu Roß abgebildet; die Gans aber ist ein „Cavalerist zu Fuß“, wie sie Masius wegen ihres watschelnden Ganges treffend nennt. Erst spätere Sagen melden, der Heilige sei durch Gänse im Predigen gestört worden, oder, wie Andere wollen, er habe sich, als er sehr jung zum Bischof gewählt werden sollte, aus Bescheidenheit im Gänsestalle versteckt, sei jedoch durch das Geschnatter der befiederten Inwohner verrathen worden. Hierauf spielt die „Einladung zur Martinsgans“ in „Des Knaben Wunderhorn“ an:

„Wann der heil’ge Sanct Martin
Will der Bischofsehr’ entflieh’n,
Sitzt er in dem Gänsestall,
Niemand find’t ihn überall,
Bis der Gänse groß Geschrei
Seine Sucher führt herbei.

Nun dieweil das Gickgackslied
Diesen heil’gen Mann verrieth,
Dafür thut am Martinstag
Man den Gänsen diese Plag’,
Daß ein strenges Todesrecht
Geh’n muß über ihr Geschlecht.“

Eine weitere Erklärung versucht die Verbindung des Bischofs mit der Gans davon herzuleiten, daß bei der Beerdigung desselben, am 11. November 402, die stattliche Anzahl von zweitausend Mönchen zugegen gewesen und bei dieser Gelegenheit eine ungeheure Menge von Gänsen aufgezehrt worden sei. Noch Andere meinen, die Zeit der fetten Gänse treffe gerade mit Martini zusammen, der Bischof stehe aber in keiner nähern Beziehung zu ihnen, außer daß früher an dem ihm geweihten Tage Gänse in die Klöster geschenkt worden seien. Letzterer Deutung schließen sich bereits alte Priameln an: „Iß gens Martini, wurst in kesto Nicolai!“ Nicht weniger ist der biedere kaiserlich gekrönte Poet und Pfarrer zu Effelder und Meschenbach[WS 1], Büttner, der Meinung, man gehe den Gänsen deshalb um Martini an den Kragen,

„Weil sie alsdenn recht flück’ im vollen Fleische steh’n,
Auch von der Weide ab- und in die Ställe geh’n,“

wozu der Most komme, der den Gänsebraten vorzüglich hinunterspüle.

Doch alle diese Erklärungen können nicht genügen. Der Sitte Ursprung ist ein ganz anderer; nicht christlichem Boden ist sie entwachsen, sondern wurzelt, um es sogleich zu sagen, im Götterglauben unserer Voreltern. Dahin deutet schon eine flüchtige Zusammenstellung dessen, was der Brauch am Martinstage zu beobachten gebietet. Merkwürdige Züge treten uns in diesen Gebräuchen entgegen. Im Böhmerwalde z. B. trinkt das Landvolk sich am Martinstage Schönheit und Stärke zu. War aber nicht ganz dieselbe Sitte bereits an den Wuotansfesten der heidnischen Deutschen üblich? In Schlesien, Böhmen, Sachsen und Schwaben bäckt man zu Martini die sogenannten „Märtenshörnchen“. Hat man aber in diesen gleich den Brezeln der Fastenzeit nicht schon längst einen Rest uralter Opferspeisen nachgewiesen? Am Niederrhein loderten noch zu Anfang dieses Jahrhunderts am Vorabend des Martinstages riesige Feuer auf allen Höhen zum nächtlichen winterlichen Himmel empor, und noch jetzt entzündet man hin und wieder an jenem Abend gewaltige Scheiterhaufen. Zu diesem „Martinsfeuer“ bettelt die Jugend singend Holz und Stroh; als dankenswerthe Zugabe sieht man Aepfel, Kuchen, Würste, Speck und Rauchfleisch an und heischt sie ohne Ziererei. Dem Gewährenden wird ein Danklied gesungen, dem Geizigen dagegen Uebles gewünscht in einem Reime, welcher schließt:

„Und eine Eule fliegt um’s Haus,
Die kratzt ihm noch die Augen aus.“

Sobald das Martinsfeuer entweder im Dorfe oder auf einer nahen Anhöhe mit seinen rothen Flammen die Umgebung beleuchtet, erhebt sich um dasselbe wildjubelnder Reigen, und „Sanct Märten“, ein in Stroh gehüllter Bursch, umreitet auf seltsamem Rosse – einem vorn mit einem Pferdekopf gezierten Stecken – den glühenden Scheiterhaufen. Wunderkräftig ist, nach dem Volksglauben, die Asche, die vor Schneckenfraß schützen soll und deshalb über die mit Winterkorn besäeten Felder gestreut wird. Rechnet man hinzu, daß der heilige Martin auf alten Bildern als Ritter zu Roß und angethan mit einem langen, weißen Mantel dargestellt wird, und daß die im Herbst ziehenden Raben und Krähen nicht blos Martinsheerden oder Martinsvögel, sondern sogar Godes-, d. h. Wodes oder Wuotanshühner genannt werden, so bleibt kaum ein berechtigter Zweifel übrig, daß wir in dem frommen Rittersmanne Martin keinen anderen, als den gewaltigen Himmelsriesen und Göttervater Wuotan selbst, und in der Rolle, die er dabei spielt, Anklänge an die Vorfeier des altdeutschen Mittwinterfestes vor uns haben. Man vergegenwärtige sich zum bessern Verständniß Folgendes.

Als die alten Götter noch nicht vor den siegreichen Strahlen des andringenden Christenthums erbleicht waren, bestand ein großer Theil des Cultus in dramatischen Darstellungen, welche Götterthaten verherrlichten. Wenn daher, nach Bestellung der Wintersaat, um Martini eine Art Vorfeier zum Jul-Fest begann, „da zogen die Götter zu Wagen und zu Roß durch die Gauen, empfingen Opfergaben und spendeten Segen dem keimenden Getreide. Es war ein frommer Mummenschanz, bei welchem das menschliche Wesen Derer, die ihn aufführten, dadurch angedeutet war, daß sie sich in weiße Gewänder, in die Farbe des Lichts kleideten.“ Unter den Opferspenden nahm, wie bei den Opfern überhaupt, die Gans, deren Zucht frühzeitig in Deutschland betrieben wurde, eine hervorragende Stelle ein. An die Gotterumzüge und Opfer schlossen sich Schmausereien an, bei welchen das Fleisch der Opferthiere verzehrt und deren vom Priester aufgefangenes Blut dem Meth beigemischt getrunken wurde. Mit Einführung des Christenthums verwandelten sich die Götter in Teufel und grauenvolle Spukgestalten oder in Heilige, und so wurde auch frühzeitig Odhin’s Walten auf Sanct Martin übertragen, wobei das Odhin dargebrachte

Opfer, die Gans, folgerichtig als Martinsgans sich vererbte und

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Meschebach
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_695.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)