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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

das ehemalige Opfer der gehörnten Thiere durch die Martinshörner angedeutet wurde, während die gewaltigen Feuer, welche einst dein Anfang einer neuen Jahreszeit entgegen loderten, vom Volk den Namen „Martinsfeuer“ erhielten.

Die Gans ist also ein Opferthier, und wenn sich in Frankreich lange die Sitte erhielt, an der Kirchweih auf dem Lande eine Gans aufzuhängen und langsam zu Tode zu martern, so wiederholte hier christlicher Brauch nur grausam, was der heidnische Cultus in minder qualvoller Ausführung vollzog. Auch bei den Römern war die Gans Opferthier und wurde der als Nebenbuhlerin von der Juno verfolgten Io (Isis) dargebracht. Möglich ist es immerhin, daß dieser Cultus von Rom nach Germanien sich verpflanzte, und da man in Rom vorzugsweise die Leber opferte, wird, als in Deutschland die Opfer zu Mahlzeiten wurden, wohl auch dieser Leckerbissen den Beiwohnenden trefflich gemundet haben. Bei solchen Opfermahlzeiten, später auch bei häuslichen Gelagen, war es nun Brauch, der Götter „Minne“, d. h. ihr Gedächtniß zu trinken. Diesen Brauch, den „Minnetrunk“, wollte man auch in christlicher Zeit nicht aufgeben, nur traten auch hier Heilige an die Stelle der Götter, so Sanct Martin, dessen Trunk, der „Martinstrunk“ oder „Martinswein“, hier und da als Sitte bis zur Gegenwart gekommen ist. Man veranstaltete nun auch Lustbarkeiten und Schmausereien zu Ehren des an Odhin’s Stelle getretenen heiligen Martin, doch zu dessen Nachtheil; denn diese mit Ausschweifungen aller Art verbundenen Gelage brachten den Bischof allmählich in den wenig beneidenswerthen Ruf eines Schlemmers, so daß in der Folge Jeder, der sein Hab und Gut verpraßt hatte, ein „Martinsmann“ genannt wurde. Im Französischen erinnern an sie noch die Ausdrücke martiner und faire la St.-Martin, d. i. schmausen, und mal de St.-Martin, d. i. verdorbener Magen. Zu seinem Gedächtniß entstanden besondere Brüderschaften, „Martinsgilden“, die sich bei ihren geselligen Zusammenkünften eigener Lieder bedienten, um das Fest und das Mahl zu verherrlichen. So sang man:

„O Marten, o Marten!
Der Korb muß verbrannt sein,
Das Geld aus den Taschen,
Der Wein in die Flaschen,
Die Gans vom Spieß!“ u. s. f.

So erniedrigte rohe Völlerei den Heiligen zum Schutzpatron der Trinker. Dabei galt Sanct Martin zugleich als Patron der Freigebigkeit, und namentlich in den Niederlanden tritt er als Beschenker der Kinder auf. Die Legende erzählt, daß er einem ihm begegnenden Bettler, um ihn gegen Kälte zu schützen, die Hälfte seines Mantels gegeben habe. In den Ländern, welche Weinbau treiben, herrschte früher der Brauch, an Martini den ersten Wein zu kosten, weshalb es sprüchwörtlich heißt: „Heb’ an Martini, trink Wein per circulum anni!“ Der Volksglaube behauptet nun, der heilige Martin verwandele den Most in Wein, ja die Kinder der Halloren in Halle rangiren ihn noch höher, indem sie ihn das Wunder Christi bei der Hochzeit zu Kana nachahmen und Wasser in Wein verwandeln lassen. Sie stellen daher am Martinstage Krüge mit Wasser in die Saline, welches die Eltern heimlich ausgießen und die Gefäße dafür mit Most füllen. Auf jedes wird ein Martinshörnchen gelegt und Alles wieder sorgsam versteckt. Die Kinder bitten, auf das Geheiß der Eltern, den „lieben Martin“, daß er das Wasser in Wein verwandele, worauf sie sich Abends in die Saline begeben und die Krüge suchen, indem sie rufen:

„Marteine, Marteine,
Mach das Wasser zu Weine.“

Zu der Sitte tritt noch die blaue Wunderblume der Sage, welche vielfach Spuren der Beziehung der Gans zu Whotan trägt. Als weissagendes Thier galt die Gans schon den alten Briten, welche Flug und Geschrei unsers Vogel deuteten. Der Volksglaube des Mittelalters erblickte in der Mißgestalt junger Gänse, etwa einer solchen mit drei Füßen, ein Unheil verkündendes Vorzeichen; noch heute aber wird das Brustbein der Martinsgans benutzt, um die Witterung des bevorstehenden Winters zu erfahren: ist es weiß, wird es strenge Kälte, ist es dunkel, viel Schnee und laues Wetter geben.

Alles dies deutet auf ein hohes Alter der damit zusammenhängenden Sitte, am Martinstage eine Gans zu essen, d. h. zu opfern. Urkundlich wird die Sitte 1171 zum ersten Mal erwähnt, wo Othelrich von Swalenberg (Ulrich von Schwalenberg) der Abtei von Corvei am Tage St. Martini eine silberne Gans widmete „für die Fraternität“, d. h. dafür, daß ihn Mönche ihrer bruderschaftlichen Gebete theilhaftig gemacht hatten, ganz wie es noch heutzutage an einigen Orten in Schwaben üblich ist, den Lehrern ein Geschenk für die Martinsgans, die ihnen sonst in natura geliefert wurde, zu machen; doch wird auch die Gans selbst dargebracht.

Die „Märtesgans“ ist in Schwaben ein Fest für sämmtliche Volksschulen. Schon ungefähr acht Tage vor Martini regt es sich geheimnißvoll unter dem jungen Völkchen in den Schulstuben, Knaben und Mädchen wispern heimlich miteinander, und ebenso heimlich werden Liebesspenden gesammelt; der Lehrer darf es aber beileibe nicht merken, denn es gilt, ihm eine Freude zu machen. Einige größere Schüler und Schülerinnen nehmen die Sache in die Hand und besorgen die Einkäufe. So sieht Alles voll Erwartung dem Martinstage entgegen. Ist dieser endlich erschienen, so werden dem Lehrer im Beisein der ganzen Schule und im Namen sämmtlicher Schüler und Schülerinnen die für ihn bestimmten Geschenke überreicht: vor Allen eine prächtig aufgeputzte Gans und der zum Mästen derselben erforderliche Mais, ferner Wein, Trauben und ein möglichst großer Kuchen oder „Heffenkranz“. Laut und lauter wird alsbald die Freude – die Kinder hängen sich an Hand und Arm des geliebten Lehrers, und schnattert einmal die Gans, gleichsam theilnehmend an der allgemeinen Lust, dazwischen, so erhebt sich allenthalben fröhliches Gelächter. Zum Schluß werden sämmtliche Gaben in des Lehrers Wohnung abgeliefert. So sehen wir den uralt heidnischen Gebrauch in der christlichen Volksschule der Gegenwart in geläuterter Gestalt sich fortspinnen – ein sinniges „Opfer“ mit dem ganzen unaussprechlichen wohlthuenden Reize kindlichfröhlichen Gebens. Im Mittelalter lieferte frommer Glaube fette Gänse an noch fettere Mönche; den hin und wieder noch sehr mager besoldeten Volksschullehrern sind sie unstreitig weit dienlicher.

Wenn wir uns heute an den Tisch setzen, um der Martinsgans ihr Recht widerfahren zu lassen, fühlen wir uns in unserm protestantischen Gewissen durchaus nicht beunruhigt. Ehemals glaubte man hierbei mit größerer Vorsicht zu Werke gehen zu müssen. Thomas Neageorgius und Andere verurtheilen mit heiligem Ingrimm das Essen der Martinsgans als „papistischen Unfug“, ja, Martinus Schockius wirft im Ernste die Frage auf, ob es erlaubt sei, am Martinstage eine Gans zu speisen. Milder urtheilen die Lutheraner, weil der große Reformator den Namen des Heiligen von Tours trägt.

Bedeutsamer als der Gegenwart mußte die Sitte früher erscheinen, zu einer Zeit, wo dem Vogel des heiligen Martin auch medicinische Eigenchaften zugeschrieben wurden. Der biedere Büttner reimt in seinem „Lobgedicht auf die Gänse“:

„Man pflegt auch von der Gans Arzneyen zu bereiten,
Mit Gänse Schmalz und Blut hilft man gar vielen Leuten.
Die Gall’, der Koth, die Zung’, die Leber und die Nier’n,
Die Fußhaut, Eingeweid’ sind gut sammt dem Gehirn.“

Für besonders heilkräftig wurden namentlich die „Platschen“ angesehen. Das Fett sollte gegen den Krampf, das Blut wider Gift dienlich sein, Gänsekoth gegen Gelb und Wassersucht sowie gegen den Scharbock helfen! Heutzutage glaubt Niemand mehr an solche Heilmittel; höchstens nimmt der Volksglaube zur Gans seine Zuflucht, wenn ein Kind von einer solchen gebissen worden und heftig erschrocken ist – die üblen Folgen abzuwehren, wird der Uebelthäterin eine Feder ausgezogen, zu Asche gebrannt und das Pulver dem Kinde eingegeben. Aber ist auch der Nimbus der Heilkräftigkeit längst dem Vogel des heiligen Martin entzogen: noch immer wird das zarte Fleisch einer jugendlichen Gans geschätzt und ihre Leber bildet das Entzücken aller Feinschmecker.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_696.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)