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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

wären. Wenn wir hier aus jenem Komödiantenthum eine Reihe von Bildern vorführen, so halten wir es für sehr angezeigt, unsere Leser um freundliche Berücksichtigung unseres Zwecks zu bitten: wir wollen auch die Schattenseiten dieses vergangenen und verkommenen Bühnentreibens darstellen und sind dadurch genöthigt, hier und da der Derbheit des Ausdrucks mehr zu gestatten, als die Gartenlaube sonst zuläßt. Der Zweck muß einmal auch hier das unvermeidliche Mittel entschuldigen.

„Es giebt keine Liebhaber mehr am deutschen Theater,“ sagte einst die alte Schröder zu mir,“ die größte dramatische Künstlerin ihres Jahrhunderts, „wissen Sie warum? Weil die Kerle keine Bürgerstöchter mehr entführen und in keine Nonnenklöster einbrechen.“

Der nordamerikanische Generalkonsul Börnstein in Bremen, der fast Alles in der Welt gewesen, was ein ehrenhafter Mensch werden kann: Buchdrucker, Soldat, Bierbrauer, ein tüchtiger Schriftsteller, Häuserbesitzer etc., war natürlich in seinen jüngeren Jahren auch Theaterdirector und Schauspieler, und zwar an sehr verschiedenen Orten: in St. Pölten, in Baltimore, in Linz etc. Auf einer Reise nach Wien besuchte er an einem bitterkalten Wintermorgen des Jahres 1839 einen Freund im Dorfe Schwechat, welches seitdem als die Erzeugnißstätte des berühmtesten Wiener Bieres einen welthistorischen Ruf erworben hat, damals aber nur ein unscheinbares schmutziges Nest war. Ueber einen Feldweg bemerkte Börnstein einen von einer elenden Mähre gezogenen Karren, auf dem ein aus rohen Brettern zusammengenagelter Sarg lag. Hinter dieser Bettelleiche gingen ein paar Jungen und ein Geistlicher. Auf die Frage, wer da zur letzten Ruhestätte geführt werde, erzählte der Priester, es sei ein fremder Mann, der, in äußerst zerlumptem Zustande, vor zwei Tagen in einem Pferdestall theils verhungert, theils erfroren gefunden worden sei. Seine sämmtliche Habe bestand, nebst den Lumpen, die er am Leibe trug, in einem alten Theaterzettel und einem zerlesenen Gebetbuch, welches auf dem Titelblatt die Worte enthielt: „Mein Trost in lichten Stunden. Reitzenberg.“

Entsetzen faßte Börnstein! Der müde Erdenwanderer, dessen Fahrten ein so trauriges Ziel erreicht, war der eben so berühmte als berüchtigte Reitzenberg, ein großer, reichbegabter Künstler, befähigt das höchste Ziel zu erreichen, und hier verendet gleich einem wilden Thier, eingescharrt in fremde Erde – verschollen und vergessen. Der Trunk war der böse Dämon, der ihn forttrieb aus allen glänzenden Stellungen, die er in der Theaterwelt eingenommen, der Dämon, welcher ihn abwärts stieß auf seinem hoffnungsreichen Weg, bis er im Schlamm rettungslos versank. Vom reichbezahlten Hofschauspieler bis zum Dorfkomödianten! Welch’ ein Weg für den genialen, hochgebildeten Baron von Reitzenstein!

Mein unlängst verstorbener Freund Moritz, der stricte Gegensatz zu Reitzenberg – ich komme in diesen Aufzeichnungen bald ausführlich auf Moritz zurück – war unerschöpflich in Mittheilungen von Anekdoten und Charakterzügen Reitzenberg’s, wenn die Rede darauf kam, da Beide eine Zeitlang zusammen ihre abenteuerlichen Fahrten an den kleinsten Winkelbühnen ausführten. Moritz, nach einem in der Theaterwelt landläufigen Ausdruck, als „blutiger Anfänger“, Reitzenberg als „sinkendes Meteor“. Mir war Letzterer auf meinem Lebensweg nur ein Mal begegnet, und zwar auf seinem „Rückgang“, als Gast an dem einzigen Theater in Znaim. Hunderte von traditionellen „Geschichtchen“, von den großartigen Bühnenschöpfungen und der noch großartigeren Frechheit des Künstlers dem Publicum gegenüber, hatten meine Neugierde auf’s Aeußerste gespannt. Im Gasthaus an der Mittagstafel, wo die Elite des Publicums verkehrte, imponirte der schöne, wenn gleich schon etwas verlebte Mann durch seine feine Bildung, durch die frischen Mittheilungen, die er, unterstützt von einem prachtvollen Organ, mit hinreißender Beredsamkeit zum Besten gab. Er hatte seine Bildung in einem kaiserlichen Militärerziehungshaus genossen, war später Officier beim Generalstab gewesen und soll damals als Baron Reitzenstein keine Spur jener verderblichen Leidenschaft gezeigt haben, die später den bürgerlichen Schauspieler Reitzenberg in’s Unglück stürzte.

Das Theater war gedrängt voll, der Ruf hatte vom nahen Prag aus, wo er als erster Liebhaber der gefeiertste Künstler des dortigen trefflichen Theaters war, Wunderdinge berichtet. Man gab Calderon’s „Leben ein Traum“, Reitzenberg den Roderich. Wie gewöhnlich hatte er bei Tische des Guten zu viel gethan, mußte aus dem Wirthshaus in’s Theater geholt werden, und betrat die Bühne schon in „etwas schrägen Verhältnissen“. Die Lösung der Aufgabe ging über die allerdings sehr bescheidenen künstlerischen Mittel der Gesellschaft, und so kam es, daß der Darsteller des Königs in seiner langen Expositionserzählung ein paar Mal stecken blieb und gründlich verhöhnt wurde. Diese Lustigkeit dehnte sich auch später auf Reitzenberg aus, als man bemerkte, daß er einen Theil seiner Sinne beim Weinglas habe sitzen lassen. Namentlich heiter wurde die vorne im Parterre aufgepflanzte Jugend des Gymnasiums von Znaim. Mitten in der Scene trat nun Reitzenberg vor den Souffleurkasten und haranguirte einen der Lacher mit folgenden Worten: „Er dummer Junge, was lacht er? Ihn da, mit der gelben Mütze, meine ich. Also, was lacht er? Ich kann meine Rolle, das sieht er: daß mein König ein Esel ist, ist nicht meine Schuld.“

Es versteht sich von selbst, daß das Znaimer Gastspiel nach diesem Scandal, der die Beendigung der Vorstellung nicht zuließ, abgebrochen war. Auch das Prager Theater mußte er auf ganz absonderliche Weise quittiren. Nachdem ihm das Publicum, dessen erklärter Liebling er, wie bereits erwähnt, war, bereits das Unglaublichste verziehen hatte, soll er während der Darstellung der Räuber diese Freiheit in nie dagewesener Weise mißbraucht und zu seiner Entschuldigung angeführt haben: Er befände sich ja im Walde, wo derlei Ausschreitungen nicht verboten wären. Das Zugstück des damaligen Repertoires waren Kotzebue’s Kreuzfahrer, seine Forcerolle darin der Balduin von Eichenhorst, den er mit hinreißender Gluth spielte. Als ihm Wilhelmi, der nachmals so berühmte Wiener Künstler, in der Kampfscene den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen hat, schleuderte er ihn im Eifer des Spieles bis an den Souffleurkasten vor. Mit unerschütterlichem Ernst sprach Reitzenberg pathetisch: „Ich hebe diesen viel zu weit vorgeworfenen Handschuh auf.“ Man kann sich das schallende Gelächter des Publicums denken.

Im Laufe der Vorstellung steigerte sich der bedenkliche Zustand Balduin’s so sehr, daß ein vorzeitiges Ende des Dramas zu fürchten stand. Im dritten Act wird er verwundet in ein nahe gelegenes Kloster gebracht, wo er seine frühere Geliebte als Nonne wiederfindet, die bei seinem Erkennen mit einem schrillen Schrei in Ohnmacht stürzt. Balduin reißt ihr den Schleier vom Antlitz und sucht sie mit heißen Liebesbetheuerungen in’s Leben zurück zu rufen. Die junge Nonne wurde von Madame Sontag, der Mutter der nachmals so berühmten Sängerin, gegeben. In dem oben geschilderten Moment stürzt Reitzenberg nieder, fällt mit ! dem vollen Gewicht seines Körpers und des Harnisches, den er trug, auf die Brust der armen Nonne, die sich kreischend dieser wuchtigen Umarmung vergebens zu entwinden sucht. Umsonst schrie sie:, „Reitzenberg, um Gotteswillen, lassen Sie mich los“ – Reitzenberg war weder im Stande, sich wieder auf die Beine zu bringen, noch seinem unglücklichen Opfer Luft zu machen. Er blieb liegen, der Vorhang mußte fallen.

Man hatte indessen den damals noch jungen Schauspieler Ludwig Löwe – den genialen großen Künstler, der keinen ebenbürtigen Nachfolger haben wird, wenn er vom kaiserlichen Hofburgtheater in Wien, dessen Zierde er noch immer ist, einst scheidet – aus einem nahen Gasthaus geholt, um das Wagniß zu übernehmen, die Rolle zu Ende zu spielen. Der Regisseur kündigt dem Publicum an, daß wegen plötzlicher Erkrankung des Herrn Reitzenberg Herr Ludwig Löwe dessen Partie zu Ende spielen werde und um gütige Nachsicht bitten lasse. Da plötzlich öffnet sich die andere Seite des Vorhangs, wankend tritt Reitzenberg mit den Worten vor das Publicum:

„Das ist nicht wahr, Reitzenberg ist nicht krank, Reitzenberg ist nicht krank, Reitzenberg ist be –!“

Man kann sich den Eindruck dieser Scene denken. Am anderen Morgen sollte der Veranlasser derselben vor Gericht Rechenschaft ablegen, allein er hatte bereits vorgezogen, das Weite zu suchen.

Nun begann sein Vagabundenleben an den winzigsten Wanderbühnen. In einer kleinen böhmischen Stadt, wo er sich ziemlich lange aufgehalten hatte, schloß er sein Gastspiel mit dem Kotzebue’schen Schauspiel: Eduard in Schottland, oder Die Nacht eines Flüchtlings, welches zu seinem Benefiz gegeben wurde. Am andern Morgen war er verschwunden, auf dem Tische seiner Stube lag, auffallend postirt, die namhafte unbezahlte Rechnung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_714.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)